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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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konnte auch dieses übernehmen. Wenn ich nicht einmal mehr auf meine beiden alten Freunde zählen konnte, zu wem sollte ich denn dann überhaupt noch Vertrauen haben?
     
    Durch Glorias Beziehungen kam ich an eine kleine möblierte Wohnung in meinem alten Viertel. Ich kreiste meist um mich selbst, innerlich seltsam leer und dunkel, als hätte jemand das Licht meiner Seele ausgeblasen. Ich trainierte im Karatestudio und ging wieder zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker.
    Beim ersten Mal war es noch eine Überwindung, durch den Saal mit den unbekannten Menschen zu gehen, die ausschließlich durch ihren Kampf gegen die inneren Dämonen, die sie mit der Flasche zu beschwichtigen suchten, verbunden waren. Aber schließlich wurde es fast zur Gewohnheit, ein-bis zweimal die Woche am Podium zu stehen, in die vielen verschiedenen Gesichter und ihre sympathisierenden Augen zu sehen und die therapeutischen Worte zu sagen: » Buenas tardes. Soy Pedro.
    Soy alcoholico. « Das hielt meine nächtlichen Ausflüge im Zaum, hinderte mich aber nicht daran, hin und wieder zu versumpfen und mit Gedächtnislücken aufzuwachen. Meistens zu Hause. Ich hatte die Fähigkeit einer Brieftaube, nach Hause zu finden, auch wenn ich mich nie daran erinnern konnte, wie ich mein eigenes Bett erreicht hatte. Einmal fand ich mich ohne einen Pfennig in der Tasche, um Papiere und Geld erleichtert, im Rinnstein wieder. Und einmal bei einer blutjungen Prostituierten, die mich teilnahmsvoll und verächtlich zugleich ansah und ihre Bezahlung forderte, obwohl ihr heroischer Einsatz offenbar kein Ergebnis gezeitigt hatte. Ich lebte und lebte doch nicht. Ich dachte oft an Clara, und wenn ich meinen Rausch aufbaute, hatte ich manchmal, kurz bevor er umkippte, die Hand am Telefon, um Kopenhagen anzurufen, aber ich fand den Mut nicht, und am späteren Abend war ich zu betrunken.
    In diesem Jahr kam der Herbst früh in Madrid. Ein eisiger Wind aus den Bergen fegte über die kastilische Ebene und jagte die Menschen um die Straßenecken der kalten Stadt. Keine Stadt kann so kalt sein wie eine Stadt im Süden. Der Wind fand alle vorhandenen Löcher und Ritzen, und die wirkungslosen Heizkörper und glimmenden Elektroheizungen fochten einen vergeblichen Kampf gegen die Kälte, die in den Leuten die schlimmsten Instinkte wachrief. Sie schüttelten sich in zu dünnen Mänteln und drängelten sich aggressiv und schlecht gelaunt vorwärts. Anfang November hatten wir Schnee, und der Verkehr brach zusammen, dann wurde das Wetter wieder mild und schön, bis die sonst stets wache Stadt von einer neuen Kältewelle mit wolkenbruchartigen Regenfällen ins Koma versetzt wurde. Der Regen strömte über die leeren Cafétische, und mit dem Rücken zum fast leeren Café hing Felipe in der Tür der Cerveceria Alemana, ließ das Geschirrtuch in seiner Hand knallen und träumte vielleicht von Stieren in einer sonnenüberfluteten Arena. Die Madrider blieben zu Hause, hockten vorm Fernseher und weigerten sich auszugehen.
    An einem Schneetag im November starb Don Alfonzo.
    Offenbar hatte er einen schönen und leichten Tod, wenn ein Tod schön oder leicht sein kann. Aber ich kannte ja die letzten Sekunden in seinem Leben nicht. Ob sie von stechendem Schmerz oder großer Angst geprägt waren, als im Treibhaus, das er für den Winter vorbereitete, sein Herz aussetzte. Oder ob er sich in seiner Religiosität darauf vorbereitet hatte, den Gott zu begrüßen, den er verflucht, aber an den er geglaubt hatte. Der Nachbar fand ihn mit einer kleinen Schaufel in der Hand neben dem Mistbeetkasten. Sein Gesicht war friedvoll, als hätte er sich zur Ruhe gelegt. Im Treibhaus war es wie immer ordentlich und aufgeräumt. Das Licht war wegen des ungewohnten Schnees auf dem Glasdach gedämpft und weich.
    Ich begrub ihn neben Amelia und Maria Luisa. Ich besuchte den Friedhof mit den weißen Kreuzen, den Tauben aus Marmor und den kühlen, sauberen Grabsteinen jetzt öfter. Manchmal nur, um in einem Buch zu lesen. Ein andermal mit einer Flasche.
    Ich führte lange Gespräche mit Amelia, und sie sagte, ich solle mein Leben in die Hand nehmen und wieder zu leben beginnen.
    Ich solle sie nicht vergessen, aber sie wolle ein Teil meines Hab und Guts sein, das ich auf meinem weiteren Weg mit mir nähme, und nicht ein Klotz am Bein. Ich suchte nach Argumenten und sagte, das ginge nicht, und ich konnte zwischen den Kreuzen ihre Stimme hören, wie sie meinen Namen wie zu Lebzeiten, wenn sie gereizt oder hin und wieder

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