Der Augenblick der Wahrheit
ein Schreiben der deutschen Behörden erhalten. Wenn ich wollte, dürfte ich meine alte Stasiakte in der Normannenstraße einsehen. Sie hätten mir ebenfalls geschrieben, aber ihre Kollegen in Deutschland hätten auch sie informiert. Ob ich wollte? Ob ich meine Akte sehen wolle?
Im Grunde hatte ich die Sache abgehakt und kaum mehr darüber nachgedacht. Ich empfand keinerlei Zorn mehr gegen die Täter und erst recht nicht gegen Clara, ich empfand nur tiefste Trauer über meinen Verlust. Mein Rachedurst war ebenso plötzlich verschwunden, wie die grelle spanische Morgensonne im Sommer den Tau auf Don Alfonzos Blumen verdunsten läßt.
Ich mußte Oscar und Gloria recht geben. Das Vergangene aufzurühren und Gespenster zu jagen brachte nur Schmerz und Unruhe mit sich. Das sagte ich Clara am Telefon. Ich merkte, daß sie über meine zurückhaltende Zustimmung enttäuscht war.
Dann sagte ich, ohne nachzudenken und ohne zu wissen warum:
»Ich komme nach Berlin, aber dann mußt du auch kommen.
Sonst fahr ich nicht.«
»Wann?«
»Wie wär’s mit morgen?«
Sie lachte wieder auf eine Art, die mich froh und frei machte.
»Wie wär’s mit übermorgen?« sagte sie.
»Einverstanden«, sagte ich. »Übermorgen ist völlig in Ordnung!«
»Abgemacht. Ruf mich an, wenn du deinen Flug weißt. Ich werde kommen.«
»Mach ich. Und, Clara …«
»Ja, Peter?«
»Ich freue mich, dich zu sehen.«
»Gleichfalls, Peter Lime. Ganz meinerseits.«
»Und … es tut mir leid, wenn ich dir Schwierigkeiten bereitet habe, weil ich die Geschichte dem Fernsehen erzählt habe. Über den internen Bericht.«
»Mach dir keine Gedanken. Ich bin ein großes Mädchen.«
»Trotzdem.«
»Ich erzähl dir das in Berlin«, sagte sie und legte auf.
Der Regen in Berlin war kälter als in Madrid und ging manchmal in Schneeregen über, aber die Stadt im Norden war an die Kälte gewohnt und dafür gebaut, und die Berliner scherten sich wenig darum. Seit dem Fall der Mauer war ich nur ein paarmal in Berlin gewesen, und die stürmische Entwicklung hatte sich fortgesetzt. In der Zeitung las ich von Deutschlands wirtschaftlicher Krise und der Mauer im Kopf, die Ost und West nach wie vor trennte, aber man hatte nicht den Eindruck, als hätte die Stadt die düsteren Worte ihrer eigenen Zeitungen gelesen. Über dem Zentrum erhoben sich große Kräne, und Glas und Beton wuchsen empor als Kennzeichen der vereinten Hauptstadt, in die bald die deutsche Regierung ziehen würde.
Trotz Kälte und Regen waren die Straßen voller Menschen, die sich mit hochgeschlagenen Kragen und schräg gehaltenen Regenschirmen wie kleine verirrte Segelschiffe durch das Nachmittagsdunkel kämpften. Obwohl ich sie ja kannte, war ich über die so früh einsetzende Dunkelheit im nördlichen Europa überrascht. Ich liebte den Süden wegen seiner Wärme, aber besonders wegen des Lichts. Das depressive nördliche Dunkel steckte das Gemüt an und machte es schwermütig, aber die Berliner schienen damit ohne größere Probleme leben zu können. Die hell erleuchteten Restaurants und Cafés waren gut besucht, und wenn ihre Türen aufgingen, drangen Wärme und Essensdüfte nach draußen. Die Straßen waren vollgestopft mit neuen Autos, die durch den Regen glitten, der von den Scheinwerferlichtern eingefangen wurde. Zwischen den großen Mercedes und BMW tauchte hin und wieder wie als Erinnerung an eine nahe Vergangenheit, in der die Stadt zweigeteilt war, ein kleiner Trabant auf. Ansonsten hatte man in den letzten zehn Jahren mit deutscher Gründlichkeit versucht, den größten Teil des heiligen kommunistischen Friedenswalls auszuradieren, der die Stadt geteilt und zwei grundsätzlich verschiedene Welten geschaffen hatte.
Mein Reisebüro hatte mich in ein kleineres, aber luxuriöses Familienhotel am Kurfürstendamm einquartiert und das Zimmer neben meinem für Clara reserviert. Ich hatte ihre Nummer im Polizeilichen Nachrichtendienst in Kopenhagen angerufen, um ihr unseren Treffpunkt mitzuteilen, mußte aber erfahren, daß sie dort nicht mehr angestellt war. Es brauchte einige Zeit und Hin-und Hertelefoniererei, ehe ich auf eine Person stieß, die mich kannte und mir verraten wollte, daß Clara Hoffmann nunmehr in der Betrugsabteilung der Kopenhagener Polizei tätig war. Dort erreichte ich eine Sekretärin und hinterließ eine Nachricht, und am Tag darauf nahm ich das Flugzeug nach Berlin.
Ich erwartete Clara erst spät, und während ich wartete, fühlte ich mich wie ein unsicherer junger
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