Der Augenblick der Wahrheit
angst.«
Vorsichtig umfaßte ich ihr Gesicht und küßte sie. Jetzt war es Clara, die feuchte Augen hatte. Ich küßte sie und hielt sanft ihren Kopf.
»Lieb mich noch mal, Peter«, sagte sie.
Wir gingen ins Bett und liebten uns wieder, diesmal langsam und zärtlich. Sie lag auf der Seite und kehrte mir den Rücken zu, und ich weiß noch, daß ich mich gleichzeitig glücklich und unglücklich fühlte, als ich ihre langsamen Atemzüge hörte und ihr Herz durch ihre weiche Haut an meiner Handfläche spürte.
Ich dachte daran, daß die Liebe im Grunde banal und immer gleich ist und trotzdem für jeden Menschen, der das Glück hat, sie zu erleben, anders und neu. Und zum ersten Mal seit langer Zeit schlief ich ohne Unterbrechung und ohne mich an meine Träume zu erinnern.
Wie gewöhnlich wachte ich früh auf und hörte an den Verkehrsgeräuschen, daß der Regen offenbar aufgehört hatte. Es war ein seltsames Gefühl, wieder einmal neben einem anderen Menschen zu erwachen. In dem kurzen Augenblick zwischen Schlaf und Bewußtsein glaubte ich, meine Hand ruhe auf Amelias nacktem, weichem Bauch und mein Mund atme in ihrem Nacken, aber dann kam der Morgen, und einen Moment lang war ich zwischen Scham und Stolz zerrissen, daß Clara neben mir lag.
Als ich aus dem Bad kam, saß Clara im Bett.
»Du bist ja vielleicht früh auf«, sagte sie und sah mich ohne Scheu an.
»Schlaf ruhig weiter«, sagte ich.
»Nein, nein«, sagte sie und schwang sich aus dem Bett.
»Geh schon zum Frühstück. Ich komme nach. Du hast ein Rendezvous mit der Vergangenheit.«
»Heute schon?«
»Um zehn im alten Gebäude in der Normannenstraße. Die Leute haben viel zu tun. Es gibt viele, die die Vergangenheit gern vergessen wollen, aber vorher wollen sie sie auffrischen.
Ich hab’s geschafft, dich ein wenig in der Warteschlange nach vorn zu bugsieren. Hab ich gestern abend vergessen, dir zu sagen.« Sie lächelte und fuhr fort: »Als ob ich etwas anderes im Kopf gehabt hätte. Aber jetzt an die Arbeit.«
Wir nahmen ein Taxi über die nicht mehr existierende Sektorengrenze ins östliche Berlin. Es war ein kalter, klarer Tag mit einer bleichen Novembersonne, die durch die Arme der vielen, offenbar überall verteilten Kräne schien, die auf den gigantischen Baustellen riesige Bauelemente an Ort und Stelle hievten. Es war schwer, sich vorzustellen, daß die Stadt einmal geteilt gewesen war, obwohl man es nach dem Übertreten der nun unsichtbaren Grenze an der Architektur merkte. Im alten Ost-Berlin erhoben sich die Betonblöcke noch immer wie Soldaten in Reih und Glied, aber die Leute trugen die gleiche Kleidung und fröstelten genauso wie die Berliner im Westen.
Und doch gab es in den beiden Deutschlands immer noch eine Grenze im Kopf. Es ist schwierig, sich die Euphorie und Verblüffung vorzustellen, als Schabowski, der Sprecher des DDR-Regimes, auf einer Pressekonferenz am 9. November 1989
fast nebenbei mitteilte, daß die Grenzübergänge zwischen Ost-und West-Berlin ab sofort geöffnet seien. Ich hatte es nachmittags amerikanischer Zeit auf CNN in New York gehört und war in den nächsten freien Flieger nach Europa gesprungen.
Ich wollte bei der Geburt einer neuen Welt dabeisein. Ich hatte sehr viele Fotos geschossen, aber nie eines verkauft. Sie waren nicht schlecht, sahen aber alle gleich aus und unterschieden sich nicht von denen meiner Konkurrenten. Völlig euphorisch und mit erhöhtem Adrenalinspiegel war ich nach Madrid zurückgekommen. Ich war davon überzeugt, daß sich die Welt fundamental geändert hatte und nie wieder die gleiche sein würde. Ich hatte ein Wunder erlebt, das ich in meinem Leben nicht mehr erwartet hatte: Die Völker ganz Ost-und Mitteleuropas hatten jene Revolution gemacht, von der wir Ende der sechziger Jahre geträumt hatten, und sie war geglückt. Auch Gloria war aufgekratzt und konnte nicht stillsitzen, sondern mußte ständig im Zimmer auf und ab gehen und immer wieder zu den unglaublichen Fernsehbildern zurückkehren, die im spanischen Fernsehen ausgestrahlt wurden. Nur Oscar war betrunken und sauer und unausstehlich und hörte nicht auf zu wiederholen, daß die ganze Geschichte in Kürze sowieso vergessen sei und daß die Ossis es noch bereuen würden, sich bedingungslos in die Arme des westdeutschen Kapitals geworfen zu haben. Gloria und ich hatten über ihn gelacht, und zu der wunderbaren Musik sind wir durchs Zimmer getanzt und haben mit dem Finger auf Oscar gezeigt, der einfach nur schlechter
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