Der Augenblick der Wahrheit
Laune war. Als sich ein Jahr später die beiden Deutschlands wiedervereinigten, betrank sich Oscar, erst dachte ich vor Freude, aber es führte zu einem derart heftigen Streit zwischen ihm und Gloria, daß ich die beiden voneinander trennen mußte. Er warf ihr vor, ihrer beider Jugend verraten zu haben. Sie warf ihm vor, in einer unwiderruflich vergangenen Zeit zu leben, und es endete mit dem üblichen Krach wegen ihrer gegenseitigen Untreue. Ich mußte Oscar zu Bett bringen und mir Glorias Beschwörungen und Klagen anhören. Oscar neigte zur Gewalt, besonders wenn er trank und gleichzeitig Speed nahm. Sie hatte Angst, es würde wieder losgehen. Er hatte sie ja schon einmal geschlagen. Als ich sie das nächste Mal sah, behandelten sie sich mit zeremonieller Höflichkeit, und einen Monat später reisten sie nach Hawaii und verliebten sich wieder ineinander.
Ich hatte seitdem nicht mehr darüber nachgedacht, aber mit Clara im Arm erinnerte ich mich an die Tage des Mauerfalls und erzählte ihr davon. Sie wollte ihr eigenes Auto nehmen, aber ich schlug ein Taxi vor. Wir saßen eng beieinander, und ich fühlte mich ruhig, ausgeglichen und leicht. Ich wollte nicht einmal einen Drink. Ich wollte nur das, was ich gerade tat: neben Clara sitzen und mich mit ihr an unsere früheren Leben erinnern.
»Ich stand gerade in der Küche und bügelte, als mein Mann kam und mich vor den Fernseher holte«, sagte sie und nahm meine Hand und streichelte sie. »Ich kann mich nicht erinnern, jemals von Bildern so bewegt gewesen zu sein wie von denen der tanzenden Menschen auf der Mauer. Besonders einer. Ein junger Mann, der oben auf der Mauer sitzt und seinen Regenschirm gegen die Wasserwerfer der Vopos hält, die ihn da runterfegen wollen. Das war schon phantastisch. Ich glaube, ich werde sein Lächeln nie vergessen. Wenn der Wasserstrahl woanders hinzielte, senkte er den Schirm, und wenn er wieder auf ihn gerichtet wurde, hob er seinen schwarzen Regenschirm –
und lächelte. Das ist der Fall der Mauer für mich, dieses kleine spöttische Lächeln. Ein zerbrechlicher kleiner Mensch, der über die impotenten Machthaber lächelt.«
»Das ist Geschichte«, sagte ich. »Heute glauben die Jugendlichen, ›DDR‹ sei mal ein Fernsehprogramm gewesen.
Sie ist ebenso zum Kitsch geworden wie das Restaurant, in dem wir in Kopenhagen gegessen haben.«
»Ja. Und das Schöne daran ist«, sagte sie, »daß Europa ohne einen Krieg dabei weggekommen ist, der uns alle weggefegt hätte. Eigentlich ist es kein Wunder, daß die Jugendlichen es als ferne Vergangenheit ansehen. Es fällt uns ja auch schwer, ihnen die DDR zu erklären und warum die Teilung Europas so lange andauerte und warum wir nichts getan haben, sondern daß die Regimes von den Völkern selbst vor die Tür gesetzt worden sind. Wir hatten Angst, unsere Stabilität zu verlieren. Und seitdem haben wir versucht, alles zu vergessen.«
»Aber die DDR und die Stasi haben existiert. Und wir sind auf dem Weg, das selber zu erleben«, sagte ich.
»Ja. Das ist das Komische an totalitären Systemen. Egal, ob Nazis oder Kommunisten, sie waren so überzeugt, unfehlbar zu sein und die Geschichte auf ihrer Seite zu haben, daß sie alles dokumentiert haben. Sie waren so überzeugt von ihrem Recht und unserem bevorstehenden Untergang, daß alles notiert werden mußte. Auch weil sie gleichzeitig so paranoid waren.
Diese seltsame Mischung aus Größenwahn und Minderwertigkeitsgefühl. Man konnte nie wissen, was die nächste Säuberung mit sich brachte, also mußte man lieber alles aufschreiben. Die verbrecherischsten Regimes der Weltgeschichte hatten auch die gewissenhaftesten Kontoristen und Bürokraten.«
Sie drehte sich zu mir, ich beugte mich über sie, küßte die weichen Lippen und fürchtete die Zukunft nicht. Ich fühlte mich so pudelwohl wie schon lange nicht mehr, obwohl unser Taxi im Stau steckengeblieben und Berlin vom gestrigen ganztägigen Regen graugestreift war und schon am Vormittag das graue Licht das furchteinflößende Novemberdunkel ankündigte. Das Licht wurde von der Dunkelheit gefressen, so daß man selbst ganz dunkel und melancholisch wurde, aber nicht an diesem Tag an der Seite von Clara und auf dem Weg zu dem Teil meiner Vergangenheit, der von pedantischen Dienern der DDR notiert worden war.
Die Stasi hatte in einem riesigen Gebäude in der Normannenstraße in Berlin-Lichtenberg residiert. Heute ist darin auch ein Museum untergebracht, wo man das Büro des letzten Chefs
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