Der Augenblick der Wahrheit
deshalb auch nicht anfechtbar. Das Archiv eines Systems, in dem keiner dem anderen über den Weg traute.
Herr Weber sagte in seinem langsamen, deutlichen Deutsch:
»Wir gehen nach einem Gesetz vor, das gewisse Richtlinien absteckt, Herr Lime. Dieses Sondergesetz wurde 1991 vom Bundestag des vereinten Deutschlands verabschiedet. Es regelt die Akteneinsicht. Ihr Gesuch wurde bearbeitet und anerkannt.
Man hat Ihre Dokumente herausgesucht. Ich habe Ihren Fall gelesen und die Namen, die mit Ihnen spezifisch nichts zu tun haben, ordnungsgemäß geschwärzt. Um zu vermeiden, daß unschuldige Opfer der Stasi ohne Not gekränkt werden. Das Archiv enthält große Tragödien. Ich habe mit eigenen Augen Menschen zusammenbrechen sehen, als sie entdeckt haben, daß der geliebte Mann sonntags mit der Familie spazierenging und montags bei seinem Führungsoffizier zum Rapport war. Aber alles für Ihren Fall Relevante steht selbstverständlich zur Durchsicht bereit. Sie dürfen Fotokopien beantragen, aber das Originalmaterial darf nicht entfernt werde. Verstehen Sie mein Deutsch?«
»Ich verstehe Sie ausgezeichnet«, sagte ich. Ich fand, daß das Ganze immer absurder wirkte und auf eine Art sehr deutsch.
Erst hatte die Stasi jahrelang die intimsten und persönlichsten Informationen gesammelt und katalogisiert, und nun waren neue Bürokraten dabei, das gigantische Material mit neuen Archivnummern und neuen Geheimnissen zu versehen, und zwar so lange, wie noch irgendeiner die Akten zu sehen wünscht.
»Gut«, sagte Herr Weber und wischte adrett einen nicht existierenden Fussel von seinem graumelierten Jackenärmel.
»Ihre Akte ist nicht sehr dick, Herr Leica. Nur ein paar Seiten in einem Ringbuch. Nicht so viel wie die vierzigtausend Seiten, die wir über Wolf Biermann haben, oder die über dreihundert Ringbücher, die der Schriftsteller Jürgen Fuchs studieren durfte.
Sie haben nicht oft in der DDR gearbeitet. Sie ließen sich nicht anwerben, Sie haben niemanden denunziert, so daß das Material, muß ich leider sagen, nicht sehr reichhaltig ist. Tut mir leid.«
»Es tut Ihnen leid? Ist es denn ein Statussymbol, eine dicke Akte zu haben?« fragte ich.
Herr Weber gab ein kurzes, trockenes Gewieher von sich.
»Der Mensch ist ein merkwürdiges Wesen. Manche brechen zusammen, wenn sie lesen, was da über sie steht. Andere brechen zusammen, wenn sie erkennen, daß sie für die Stasi nicht interessant genug waren. Wir können im vereinigten Deutschland von einer Art Archivneid sprechen. Es gab Leute, die mußten in psychologische Behandlung wegen dieser wiedervereinigungsbedingten Krankheit. Für die es von großer Bedeutung ist, registriert zu sein. Zum Beispiel haben wir von Ihnen keine Duftproben.«
»Duftproben«, wiederholte ich. Zunächst dachte ich, sein förmliches Deutsch mißverstanden zu haben, aber dann merkte ich, daß es ein Teil seiner Demonstration war, zumindest für Ausländer, denn er nahm ein Marmeladenglas aus seiner Tasche und stellte es auf den Tisch. Es trug eine Nummer und war sorgfältig verschlossen, als sollten darin spätsommerliche Cornichons aufbewahrt werden. Im Glas lag ein schmutziggelber Wattebausch. Sonst nichts. Ich nahm das Glas, guckte es an und schaute fragend zu Herrn Weber.
»Das Stasihandbuch spricht von Geruchskonserven«, sagte er und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Es gibt Tausende von diesen Gläsern. Es sind Proben menschlicher Körpergerüche. Wir riechen nämlich alle. Und indem man den Körpergeruch eines Menschen hatte, konnte man schnell und effektiv Spürhunde einsetzen, wenn beispielsweise der oder die Betreffende Republikflucht versuchte.«
Ich fing an zu lachen. Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen, obwohl Herr Weber es offensichtlich unpassend fand.
»Vielleicht sollte man darüber lachen. Vielleicht war es eine Komödie, wenn es keine Tragödie war«, sagte er.
»Herr Weber, Sie haben einen interessanten Job. Darf ich mir erlauben zu fragen, was Sie vor dem Fall der Mauer gemacht haben?«
Wieder lächelte er sein kleines ironisches Lächeln.
»Das dürfen Sie gern. Ich habe mehrere Jahre die Affen im Tierpark gepflegt. Davor war ich Germanistikdozent, aber nach einer Goethevorlesung und gewissen privaten Äußerungen, die der Partei nicht paßten, verlor ich meine Stellung und wurde zu jenem eigentümlichen Wesen, das man auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs eine Unperson nannte. Offiziell existierte ich nicht mehr. Ich war ein lebender Toter.
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