Der Augenblick der Wahrheit
Mielke mit seinen vielen Telefonen bewundern kann, die das Markenzeichen kommunistischer Regimes waren. Sie standen auf einem dieser blankgewienerten Schreibtische aus dunklem Holz, wie sie die politischen Führer von Wladiwostok bis Berlin so liebten. Telefone für vertrauliche, geheime, streng geheime Gespräche. Direkte Verbindungen zu Militär, Politbüro und dem KGB in Karlshorst. Ein Teil des Gebäudes ist Museum, andere Teile sind zivilen Institutionen übergeben worden. Im Museum zeugen Orden, Leninbüsten und rote Fahnen stumm von einer Epoche und ihrem Untergang. Und es gibt einen Lesesaal, in dem man seine Akten einsehen kann. Es gibt genug zu lesen. Die Stasi besaß 180 km Regale mit Dokumenten, Fotos und Abhörprotokollen. Jeder dritte DDR-Bürger war registriert. Wie konnte das damit zusammengehen, daß offenbar auch jeder dritte ein Informant war? Die Spitzel waren ohne Ende miteinander verfilzt. Es ist das Monument von der Torheit des Menschen, wenn jegliches Vertrauen in einer Gesellschaft verschwindet.
Wir hielten am Rand des Komplexes in der Ruschestraße und warteten, während Clara sich erkundigte. Heute ist es eine gewöhnliche Straße in einem gewöhnlichen Berliner Viertel.
Werbeplakate für Sony und Ritter Sport. Ein Supermarkt und Fußgänger, die vorbeieilen, ohne den düsteren Gebäuden besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
»Du mußt nach einem Herrn Weber fragen«, sagte Clara.
»Kommst du nicht mit?«
»Nein, ich fahr ins Hotel zurück, geh spazieren oder les ein bißchen. Wie ist dein Deutsch?«
»Ich komm zurecht«, sagte ich. »Aber komm doch mit rein.«
Sie legte ihre Hand auf meinen Nacken und gab mir einen flüchtigen Kuß.
»Du hast die Genehmigung. Es ist deine Akte. Nimm dir die Zeit, die du brauchst, aber komm schnell zurück. Und jetzt raus mit dir!«
Ich stieg aus und blickte dem Taxi hinterher. Clara drehte sich nicht um und hob nur die Hand zum Gruß. Ich ging in Haus Nr.
7 und fragte in einem kleinen Empfang nach Herrn Weber.
Fußboden und Licht wirkten neu, aber es roch noch immer ein wenig nach dem alten Regime, dieser typische braunkohle-und lavoktanartige Geruch. Es war ruhig in dem Gebäude, aber man konnte sich die langen Korridore vorstellen, die stillen, staubigen Räume mit den vielen Millionen Papieren, die verstummten Schreie und die großen Walzen mit den Karteien, die sich drehten und Dossiers und Akten ausspuckten, von sorgfältigen Kontoristen geführt, damit Staat und Partei das Tun und Lassen jedes Bürgers überwachen und versuchen konnten, seine innersten Gedanken zu entschlüsseln.
Herr Weber war ein kleiner, stämmiger Mann mit abweisender Miene, aber er lächelte freundlich, als ich meinen Namen nannte, und seine grauen Augen waren sympathisch und voller Leben.
»Ach, Herr Leica«, sagte er mit einem Blick, der mich einen Moment lang glauben ließ, er wolle mit mir flirten.
»Leica?« fragte ich.
»Ja, Herr Lime. So lautet Ihr Deckname im Stasiarchiv, und unter diesem Namen habe ich Sie studiert. Ich glaube fast, ich kenne Sie so gut wie die anderen, mit denen mich meine Arbeit durch die Protokolle der Vergangenheit in Kontakt gebracht hat.«
»Mich studiert?«
»Setzen Sie sich bitte einen Moment, dann erkläre ich Ihnen die Regeln und Verordnungen, bevor ich Sie in den Lesesaal führe.«
Wir setzten uns auf ein paar unbequeme Lehnstühle in einer unbestimmten schmutziggrünen Farbe. Auf dem kleinen Tisch zwischen uns stand ein Aschenbecher, und ich durfte rauchen.
Er erklärte wie ein Lehrer, der dasselbe Pensum zum zwanzigsten Mal durchgeht, aber gleichzeitig auch lebendig und interessiert, als wäre seine Aufgabe, die geheimen Aufzeichnungen eines toten Landes zu verwalten und weiterzugeben, ein Amt, das mit Pflichtgefühl und termingerechter Sorgfalt ausgeführt werden mußte. Einst beherbergten die Gebäude ein so diabolisches Angstministerium, wie es sich nicht einmal Orwell hätte ausdenken können. Nun ist es das am besten durchorganisierte Wahrheitsministerium der Welt, wo die Menschen in die jüngste Vergangenheit eintauchen, um zu sehen, wer wen denunziert hat. Ehepartner, Freunde, Brüder, Schwestern, Eltern, Kollegen.
Der Großteil eines Volkes aufmarschiert als Informanten.
Milliarden Worte, die einst Freiheit oder Gefängnis bedeuteten.
Worte, aufgefangen und niedergeschrieben von Menschen und damit unzuverlässig und subjektiv, aber entscheidend für ein Leben. Worte, insgeheim und unter der Hand notiert und
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