Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
Vom Netzwerk:
lachte. Das war typisch Oscar. Das war sein Blick auf die Frauen. Er eroberte sie, fand ihre Geheimnisse, und wenn er ihren Körper und ihre Seele zu kennen meinte, fingen sie schnell an, ihn zu langweilen. Nur die unberechenbare, begabte, erotische Gloria hatte ihn so lange festgehalten, bis eine Trennung zu unpraktisch geworden war. Außerdem liebte er sie auf seine Weise, und phasenweise konnte er sich so stürmisch in sie verlieben, als hätten sie sich eben erst getroffen und als gäbe es noch immer Geheimnisse zu lüften. Das geschah oft, wenn er von einer längeren Geschäftsreise zurückkehrte.
    »Hast du sie?« fragte er noch einmal.
     
    Ich wies auf die feuersicheren Stahlschränke an der einen Wand.
    »Du weißt, ich schmeiße nie ein Negativ weg. Die sind hier sicher irgendwo. Das Foto sagt mir nichts, aber es wird schon irgendwo sein. Vielleicht oben auf dem Speicher.«
    »Also wirst du es finden?«
    Ich zuckte die Schultern.
    »Das hat keine Priorität«, sagte ich.
    »Es ist ein echtes Lime-Foto«, sagte er. »Es ist alles drin.
    Schnitt, Spannung, Mystik, Unruhe, Gefahr, Freude. Du warst schon gut, als du noch jung warst.«
    »Auf Wiedersehen, Oscar«, sagte ich.
    Er steckte die Bilder mit dem Minister und der italienischen Schauspielerin in einen Umschlag, tätschelte mir die Wange und ging.
    Ich klappte mein Handy auf. Wenn ich nicht im Einsatz war, ließ ich den Anrufbeantworter gern Sekretärin spielen. Es gab eine Nachricht von Clara Hoffmann, die fragte, ob ich sie anrufen wolle. Nein, das wollte ich nicht. Statt dessen ging ich zu den Stahlschränken und schloß den ersten auf. Da steckte ein großer Teil meines Lebens, eingepackt in kleine Vierecke aus grauem, weichem Negativpapier. Die Negative waren nach Jahren geordnet. Auf jedes Päckchen hatte ich Datum und Thema der Bilder notiert. Es gab Tausende davon. Ich bin in meinem Leben viel herumgekommen, aber bei meinen Bildern habe ich immer Ordnung gehalten. Selbst in den chaotischsten Lebensetappen, in denen ich am Rande eines Abgrunds balancierte, hielt ich meine Negative in Ordnung. Eines schien ich zu ahnen: Wenn erst einmal Unordnung in meine Fotos käme, wäre alles verloren, dann würde ich in die Tiefe gezogen, aus der es keinen Weg mehr nach oben gäbe. In den ersten Jahren, als ich kaum einen eigenen Wohnsitz hatte, waren sie bei meinen Eltern in Pappkartons aufbewahrt. Als ich später in meine erste kleine Wohnung zog, die jetzt Küche und Gemeinschaftsraum der nunmehr großen Wohnung waren, zogen sie mit mir ein. Nun lagerte diese in Hundertstelsekunden eingefrorene Zeit hübsch geordnet in Stahlschränken.
    Aber nicht vollständig.
    Das Negativ könnte auch in meinem Geheimarchiv sein, von dem nicht einmal Oscar wußte. Ich habe meine Negative nicht nur stets mit Sorgfalt behandelt. Ich habe auch die besten und umstrittensten immer als Lebensversicherung und Pension und als Summe meines Lebens betrachtet. Seit meiner Jugend habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht, Negative von besonderen Fotos an meine Eltern zu schicken. Ich legte das Negativ in einen an mich adressierten Umschlag, den ich wiederum in einen an meine Eltern gerichteten Brief steckte. Sie wußten, daß sie den Umschlag bloß annehmen und hüten mußten, bis ich nach Haus kam. Wenn ich sie dann in unregelmäßigen Abständen in Dänemark besuchte, öffnete ich die Umschläge und legte sie in einen Koffer, der nach und nach immer wieder durch einen größeren ersetzt werden mußte. Zur Zeit war es ein stattlicher weißer Samsonite-Stahlkoffer mit Zahlenschloß. Es durfte nämlich nur einen Koffer geben. Das war ein Teil des Rituals und der selbstgestrickten Legende, die einen Gutteil Aberglaube enthielt. Die Motive sortierte ich, archivierte sie und schrieb sie in ein schwarzes Notizbuch. Es war vielleicht meine kleine Grille, aber ich vertraute zentralen Archiven nicht, und ich vertraute auch Computern nicht. Nicht nur das Negativ meines berühmten Fotos der nackten, sich sonnenden Jacqueline Kennedy befand sich in meinem Koffer oder andere Bilder, die mir ein Vermögen eingebracht hatten. Da gab es auch ein Landschaftsbild, das mir etwas bedeutete. Oder mir einmal etwas bedeutet hatte. Dann die ersten Bilder mit meiner Leica.
    Ein eigentlich banales Touristenfoto vom Roten Platz in Moskau war dort zusammen mit einem kleinen Porträt meiner ersten Freundin aufbewahrt, das ich mit der alten Kodak-Box aufgenommen hatte. Das erste Bild, das ich selbst entwickelt und

Weitere Kostenlose Bücher