Der Augenblick der Wahrheit
abgezogen hatte. Es gab Negative aus dem Iran, aus Dänemark, aus meiner Kindheit und Jugend, von fast vergessenen Geliebten und Freundinnen, dann aus meinem lebenslangen Projekt, sämtliche Orte, an denen Hemingway gesoffen hatte, aufzunehmen, und schließlich die Millionennegative wie die von dem Minister und seiner Mätresse. Die ersten Bilder von Amelia und der neugeborenen Maria Luisa. Aber hier waren auch die Liebesbriefe eines langen Lebens aufbewahrt, Briefe meines Vaters und meiner Mutter, mein erster Brief an meine Eltern aus den Sommerferien, ein paar Zeugnisse, Aufsätze und meine plumpen Versuche, Gedichte zu schreiben, Skizzen und hastig hingekritzelte Tagebuchnotizen und Gedanken. Einige Zeitungsausschnitte, aber nur wenige, die aus meiner Kindheit und frühen Jugend stammten. Die Morde an den Kennedys. Der erste Mensch auf dem Mond. Mein Bild von dem Vopo, der über die bröckelnde Berliner Mauer lacht. Es war ein Nostalgiekoffer, in dem ich die Archivalien meines Lebensabenteuers aufbewahrte. Für keine anderen Augen als die meinen bestimmt. In meinem Testament steht, daß der Koffer bei meinem Tod ungeöffnet in die Müllverbrennungsanlage transportiert werden soll. In meinem wechselvollen Dasein war der Lebenskoffer Tagebuch und fester Halt für mich. Ein Koffer, in dem ich meine Geheimnisse und innersten Gedanken aufbewahren konnte. Als meine Eltern nicht mehr waren, stand er bei einem Anwalt, der auch meine Post entgegennahm, aber in den letzten fünf Jahren hatte er bei Amelias Vater Obdach gefunden. Als alter Geschäftsmann konnte er Geheimnisse für sich behalten, und obwohl wir manche Dinge sehr verschieden sahen, wußte ich, daß er mir vertraute und mich respektierte, ja, mich sogar gern hatte, weil er merkte, wie bedingungslos ich seine einzige Tochter und seine Enkelin liebte.
Ich suchte also eines der mehr pornographischen Negative aus und legte es mit Zeit und Ort in einen an mich gerichteten Umschlag, den ich mit einem kleinen Gruß an Amelias Vater in einen größeren Umschlag steckte. Das Bild mit der mystischen Frau konnte gut in dem weißen Koffer in Don Alfonzos gemütlichem Haus außerhalb von Madrid liegen.
Ich checkte meine E-Mails und beantwortete ein paar Briefe.
Die meisten stammten von Informanten, die mir von möglichen Hits berichteten, von Gerüchten und Gemunkel, wo die Promis der Welt ihren Urlaub verbrachten oder zu verbringen gedachten. Das brauchten keine Skandalfotos zu sein. Jede Abbildung einer prominenten Person in einer privaten, nicht offiziellen Situation, in der ihre Verwundbarkeit ausgestellt wurde, war viel Geld wert. Ich würde auf keinen der Tips reagieren, aber ich dankte meinen Informanten, überwies einem die tausend Dollar, die er meiner Meinung nach verdient hatte, und schickte den Tip einem jungen Fotografen, der frei für uns in London arbeitete und dem ich einen Break gönnte. Ich habe selbst einmal in einer Traube von Fotografen um einen guten Platz gerungen, als wir vor einem Restaurant in Kensington warteten, weil darin einem Ondit zufolge ein Mitglied der königlichen Familie sein Mittagsmahl zu sich nahm.
Stundenlange Wartezeit für eine tausendstel Sekunde. Das Los des Fotografen: Hurry up and wait!
Die Diva kam mit ihrer Ankleiderin, und ich verbrachte eine vergnügliche Stunde mit der affektierten Alten in meinem Atelier, während sie mich über alte und neue Liebhaber unterrichtete und zärtlich und munter Skandalgeschichten aus der Welt des Theaters und der Kunst zum besten gab. Sie gehörte einer vergangenen Zeit an, in der Spanien wirklich anders war, aber sie hatte ein hervorragendes Gesicht, und als die große Schauspielerin, die sie war, konnte sie mit jedem der vielen hundert Gesichtsmuskeln agieren. Ich versuchte unterschiedliche Beleuchtungen. Sie wollte mystisch und geheimnisvoll aussehen und gern zwanzig Jahre jünger erscheinen. Wenn das Bild gut genug wäre, würde sie das Theater auffordern, es für ihre Promotion zu benutzen. Ich hatte auch mehrere Schriftsteller als Kunden. Es war allmählich so weit gekommen, daß das Umschlagfoto für den Verkauf wichtiger war als der Inhalt des Romans. Wir lebten in einer Medienzeit, in der Image alles und Substanz nichts war. Alle, die im Scheinwerferlicht der Medien standen, wünschten die Rolle zu spielen, die diese Medien ausgesucht hatten. Sie behaupteten, sie seien sie selber, aber ich wußte besser als andere, daß sie am liebsten eine selbstgeschaffene, konstruierte
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