Der Augenblick der Wahrheit
Kupferkessel im Restaurantfenster hing, die klagende, eintönige Stimme des blinden Lotterieverkäufers, wenn er jedem, der an der nächsten großen Ziehung teilnahm, versprach, bei der Glücksgöttin Fürbitte einzulegen, das klappernde, rasselnde Geräusch eines dreirädrigen Transportscooters und das sanfte Summen eines Jaguars. Die ewige Kakophonie der Widersprüche, das Nebeneinander von Alt und Neu, das in Madrid und Spanien noch heute ins Auge springt.
Ich ging am Café Viva Madrid vorbei und die paar Meter zur Calle Echégaray, die eine der ältesten Straßen Madrids ist. Ich steckte meine Briefe ein und ging vergnügt weiter. Kneipen und kleine Pensionen liegen hier dicht beieinander. Der Bürgersteig ist schmal, so daß man sich an die Hausmauern drücken muß, wenn Autos durchrattern. In jungen Jahren wohnte ich gegenüber dem Hotel Inglés und der Karateschule in der Pension las Once. Die Japaner eröffneten im selben Jahr, als ich in einem kleinen Zimmer im vierten Stock bei Señor Alberto und seiner Señora einzog. Sie hatten ein galicisches Dienstmädchen, etwa dreißig, vielleicht Jungfrau, Analphabetin und so unfreundlich, daß ich ihr einmal sagte, sie könne einen Guardia Civil heiraten. Man konnte Rosa nicht gerade schön nennen. Sie hatte reine, aber grobe Züge und einen plumpen, runden Körper. Sie war, was sie war: Tochter eines mit reicher Kinderschar gesegneten, ansonsten armen Tagelöhners und einer verbrauchten Mutter, die sich wie so viele andere arme Spanier jener Tage mühen und plagen mußten, um die Familie durchzubringen. Rosa lief immer in einem rosa Kittel herum und machte sauber und bereitete mit der Señora das Essen vor. Sie kam aus einem Dörfchen im fernen, grünen, hügeligen Galicien.
Jeden Morgen stellte sich ihr Vater mit anderen Männern in der Hoffnung auf den Dorfplatz, der Verwalter des Gutsbesitzers würde ihnen Arbeit für den Tag geben. Die Armut war weit verbreitet, die Ausbeutung himmelschreiend und die Klassenunterschiede waren gewaltig. Als Rosa losgeschickt wurde, um Dienstmädchen zu werden, war sie sieben, aber wie sie in der Pension las Once in Madrid gelandet war, habe ich nie herausgefunden. Abends versuchte ihr die Señora mit der Zeitung ABC das Lesen beizubringen. Es war ein großer Tag, als Rosa die Überschriften selbst lesen konnte, und der alte Señor Alberto holte eine Flasche seltenen Sherry hervor, die er fünfundzwanzig Jahre gelagert hatte, und feierlich stießen wir auf Rosa an, die nun des Mysteriums teilhaftig geworden war, daß beliebige Buchstaben in einer bestimmten Reihenfolge Worte bilden, die wiederum einen Sinn bilden, der wiederum Träume formt. Es war einfach, im Spanien jener Tage Sozialist zu sein. Die Ausbeutung und Unterdrückung waren in Francos Spanien mit Händen zu greifen. Der von den Touristen an der Küste geschaffene Reichtum kam nur wenigen zugute. Es gibt keinen Grund, die Vergangenheit zu romantisieren, warum tun wir es dann die ganze Zeit? Spanien hatte es weit gebracht, und wo es vor einer Generation viele wie Rosa gab, waren es nun nur noch wenige, die nicht in die Schule gingen und die Grundlagen erlernten, um ein Mensch zu sein, nämlich Lesen und Schreiben.
Wie so oft mußte ich an Rosa denken und was sie heute wohl machte. Sie hatte schließlich geheiratet, keinen Zivilgardisten, sondern einen Freibauern aus Andalusien. Hatte sie sich selber in irgendeinem gottverlassenen andalusischen Olivenhain zu Tode verbraucht? Was würde sie heute zum modernen Spanien mit Computern, Autos, Materialismus, kleinen Familien, Abtreibung, Verhütung, Demokratie, Freiheit und postmoderner Modernität sagen? Hatte sich einer von uns vorgestellt, daß sie das Land dermaßen verändern würden? Ich glaube nicht.
Irgendwie beweinen wir die Veränderung sicher auch. Hatten wir Spanien nicht geliebt, gerade weil es anders und unmodern war, nicht europäisch, sondern fast afrikanisch in seinen Farben, seiner Lebensweise und seiner Atmosphäre? Jetzt war es wie jede andere europäische Nation. In der Europäischen Union besaß es noch immer sein eigenes kulturelles Gesicht, aber im Grunde war die Mimik von Stockholm bis Madrid die gleiche.
Jedenfalls bei der Jugend. Eine amerikanische Mimik. Nur in der Stierkampfarena, als Museum vergangener Eigenart, überlebte das alte Spanien. Der Rest funktionierte nach den Gesetzen der ewig mahlenden globalen Medienmaschine, von der ich ein wohlhabender Teil war.
Vielleicht lag es an meinem
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