Der Augenblick der Wahrheit
hinter seinem Schreibtisch hervor und verließ den Raum.
»Was ist passiert?« fragte ich noch einmal. Ich rührte mich nicht und hörte mir die Geschichte an. Es gab keine Tränen.
Mein Inneres war trocken, leer und still. Gloria erzählte.
Tatsachengetreu und anwaltsgenau, als referierte sie einen Polizeibericht, faßte sie meine Lebenstragödie in kalte Worte.
Um 1.30 Uhr hatte sich in der Wohnung eine Explosion ereignet. Sie war so heftig gewesen, daß die Scheiben hinausgedrückt worden waren. Der Explosion folgte ein gewaltiges Feuer, das sich im ganzen Haus ausbreitete. Es war fast völlig ausgebrannt. Das Dach war eingestürzt. Erst vor ein paar Stunden hatte die Feuerwehr den Brand so unter Kontrolle, daß sie sich überhaupt ins Haus wagen konnte. Bis zur Stunde waren dreizehn Leichen und elf Verletzte geborgen worden. Die beiden Familien im Erdgeschoß sowie die Familien im ersten und zweiten Stock konnten sich retten. Die Leichen sind zum Rechtsmedizinischen Institut gebracht worden. Die Polizei hatte mit den Nachforschungen begonnen. Ihre vorläufige Theorie besagte, daß es sich um eine Gasexplosion durch ein undichtes Rohr in der Küche oder im Badezimmer unserer Wohnung oder der unter uns handelte.
Ihr Bericht hätte ebensogut in der Zeitung stehen können, und später stand es auch beinahe so in den seriösen Morgenzeitungen, während die Boulevardpresse etwas dicker auftrug und von einem Katastrophenbrand schrieb, begleitet von Leitartikeln über die vielen alten, gefährlichen Gasleitungen, die in Madrids ältestem Stadtteil nach wie vor existierten. Und dazu der übliche Tratsch natürlich.
»Seid ihr sicher, daß sie zu Hause waren?« fragte ich.
»Völlig, Peter«, sagte Gloria.
»Ich möchte sie sehen«, sagte ich.
»Natürlich«, sagte Gloria.
»Wir können sofort hinfahren«, sagte Oscar. »Aber es wird nicht sehr angenehm.«
»Es kann nicht schlimmer werden«, sagte ich.
Mit Gefühlen konnte Oscar nicht besonders gut umgehen, aber im Moment machte er es ganz ordentlich. Er war offensichtlich erschüttert, weiß wie ein Laken und beinahe gebeugt, als hätte ihm jemand einen Riesenstein auf den Rücken gelegt. Er schlurfte mit den Füßen, als er zu mir kam, eine Zigarette anzündete und sie mir in den Mund steckte. Er legte den Arm um mich, wir saßen ohne ein Wort da, und während ich seinen schweren, starken Arm auf meiner Schulter spürte und Glorias Hand in meiner fühlte, rauchte ich die Zigarette und versuchte zu verstehen, daß mir Amelia und Maria Luisa genommen worden waren. Ich wollte mir selbst gegenüber nicht das Wort
›tot‹ gebrauchen. Es wirkte falsch. Es war zu neutral und beinahe etwas Natürliches. Menschen starben zu irgendeinem Zeitpunkt, aber die Meinen waren mir geraubt worden. Entrissen und entführt.
Ich kann das Gefühl der Leere, Trauer und unsinnigen Wut, daß sie mich auf diese Weise verlassen hatten, nicht beschreiben. Ich war auch voller Schuldgefühle, daß ich die Gasanlage in der Wohnung nicht längst gegen eine elektrische Heizung ausgetauscht hatte. Aber in Tausenden von Küchen und Bädern des alten Madrid zischten und stanken die Gasboiler. Ich war traurig gewesen, als erst mein Vater und dann meine Mutter starben. Aber sie waren beide fast achtzig gewesen. Sie hatten ein langes Leben gelebt. Es war etwas Natürliches, daß sie fortgingen und die Bühne meinem großen Bruder und mir überließen. Sie starben nach langer Krankheit, so daß man das Gefühl hatte, sie seien müde und hätten genug vom Leben.
Maria Luisa und Amelia waren weggerissen worden. Es war so verdammt ungerecht.
Oscar hatte seinen Mercedes 600 im Hof geparkt, er setzte mich neben Gloria auf den Rücksitz. Die Wärter mit den klobigen schußsicheren Westen öffneten den Schlagbaum, und wir fuhren in das, was die Freiheit hätte sein können, aber Freiheit wozu? Zum Unglücklichsein? Sich das Leben zu nehmen? Zur Flasche zurückzukehren? Auf der Straße erwarteten uns zwei Fernsehteams und ein Grüppchen Fotografen und Journalisten.
»Was ist denn hier los, Oscar?« fragte ich, als er bremsen mußte, um nicht in die wartende Menge zu fahren.
»Du weißt doch, wie das ist. Die wissen so was sofort«, sagte er.
»Woher?«
»Du bist doch selber ein Teil dieses Packs. Natürlich brodelte die Gerüchteküche, daß du im Knast warst, als wir angefangen haben herumzutelefonieren. Sie haben doch gewußt, wo du wohnst. Die können doch zwei und zwei zusammenzählen. Es gibt
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