Der Augenblick der Wahrheit
Schutt zugedeckt worden. Ihre Augen waren geschlossen. Sie war etwas rußig, und auf ihrem kleinen Kinn zeigte sich eine Blase, aber es waren die fehlenden Wimpern, die mich zum Weinen brachten, einem lautlosen Weinen. Tränen rannen mir die Wangen hinunter. Ich fühlte mich schuldig und beschämt.
»Sind das Ihre Frau und Ihre Tochter?« fragte der Mann in dem weißen Kittel.
»Ja.«
»Ich möchte mit Ihrer Erlaubnis gern eine Obduktion vornehmen.«
»Warum?«
Er schaute auf.
»Ich habe um etwas gebeten, Señor Lime.«
Es war ein Mann mittleren Alters in einem gutsitzenden Anzug, der mich angesprochen hatte. Er stand in einer Ecke des Raums, aber ich hatte ihn nicht bemerkt. Gloria und Oscar standen an der Tür. Sie waren kalkweiß im Gesicht. Gloria sah um Jahre gealtert aus, und Oscar preßte seine Hände fest zusammen. Gloria hatte sich ein schlichtes blaues T-Shirt übergezogen, das sie im Auto gehabt haben mußte. Ich hatte es gar nicht bemerkt, aber sie war derart durcheinander, daß sie sich hinterher das Haar nicht gekämmt hatte. Es stand wirr um ihren Kopf, als wäre sie eben aufgestanden.
»Rodriques, Kriminalpolizei«, sagte er und zeigte seine Dienstmarke. Er hatte schmale, braune Hände und trug einen kleinen Diamantring sowie einen Ehering. Gloria trat vor, um mich zu beschützen, aber ich hob die Hand und brachte sie mitten im Schritt zum Stehen.
»Ich kann jetzt dazu noch nichts sagen«, wehrte ich ihn ab.
»Das müssen Sie aber«, sagte er. »Ihre Familie muß unter die Erde.«
Das war richtig. In Spanien werden die Toten schnell begraben. Man wartet nicht bis zu einer Woche wie in Dänemark. Vielleicht ist das eine Sitte aus alter Zeit, als die Leichen in der Hitze nicht lange liegen konnten. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß das Fleisch für die Katholiken nicht so wichtig ist wie für uns, sondern die Seele.
»Aber warum?«
Er trat einen Schritt vor, zog ein Paar OP-Handschuhe über seine schlanken, eleganten Hände und drehte vorsichtig Amelias entstellten Kopf herum. Mir wurde übel, aber ich hatte nichts mehr im Magen. Vor meinen Augen tanzten kleine Lichtpünktchen.
»Schauen Sie, Señor Lime«, sagte er. Er zeigte auf zwei Vertiefungen. Beinahe sanft folgte ihnen sein behandschuhter Zeigefinger; sie zogen sich um den Hals bis zu den Ohren hin.
Mir war schwindlig, und ich hatte Schwierigkeiten, klar zu sehen. Der verunstaltete Hals vor meinen Augen verschwand, und statt dessen erschienen Bilder von Amelias weißem, edlem Hals, wenn sie den Kopf zurücklegte und über eine meiner Geschichten oder über Maria Luisas altkluge Bemerkungen lachte.
Rodriques fuhr fort: »Sehen Sie. Ich verstehe nicht, und der Pathologe versteht auch nicht, warum Ihre Frau diese Quetschungen hat. Sie können nicht sagen, woher die kommen?«
Ich muß den Kopf geschüttelt haben, denn er sagte im selben höflichen, neutralen Ton: »Sie sehen wie Würgemale aus. Als wäre Ihre Frau erdrosselt worden. Und wir wollen gern wissen, ob das vor oder nach dem Brand geschah. Verstehen Sie? Ob sie schon tot war, als der Brand ausbrach, oder ob sie sich die Male später zuzog. Indem sie zum Beispiel in einem Kabel hängenblieb. Ob das hier ein Unfall ist oder dreizehnfache Tötung. Falls es sich um einen Mordbrand handelt, muß ich Ihnen den Ernst der Lage nicht erklären. Daher bitten wir höflichst um Erlaubnis zu einer Obduktion. Sie können ablehnen, aber dann werden wir den Rechtsweg einschlagen.«
Die Zeit stand still. Ich drehte mich zu Gloria und Oscar um.
»Verkauft die Fotos«, sagte ich, dann wurde alles schwarz.
Zweiter Teil
Die Zeit heilt keine Wunden
Der größte Schmerz auf dieser Welt ist zu verlieren, den man liebt
Steen Steensen Blicher
6
Daß die Zeit alle Wunden heilt, ist ein Märchen. Die Zeit heilt keine Wunden, aber die Zeit lindert den Schmerz wie die Tablette ein schlimmes Kopfweh. Der Schmerz ist noch da, aber er sticht nicht mehr wie ein spitzer Nagel. Die Zeit macht die scharfe Spitze des Nagels stumpf, und der Schmerz, der einen seine Trauer in die Welt brüllen läßt, wird von einer steten, nagenden Pein abgelöst, die einen nicht einmal nachts, wenn der Schlaf nicht kommen will, verläßt.
Die folgende Zeit war chaotisch und verwirrend, und zum ersten Mal in meinem Leben verlor ich teilweise die Kontrolle über die Ereignisse. Als wäre ich wieder ein Kind und von der Fürsorge und den Entschlüssen der Erwachsenen abhängig.
Wohlwollende
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