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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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noch rauszuholen.«
    »Das wär nett.«
    Die Verbindung wurde unterbrochen. Es mußte eine zentrale Schaltstelle geben. Das Telefon war also ein Schnurloses, das sie an anderer Stelle »auflegen« konnten. Kurz darauf kam der neue Vollzugsbeamte, wie ich ihn nannte, und holte das Telefon, und ich sah ihn meine Rettungsleine mit gemischten Gefühlen wegtragen. Ich hatte Kontakt gehabt. Es gab eine Welt außerhalb. Ich hatte Freunde, die für meine Freilassung arbeiteten.
    Es wurde ein langweiliger, aber eigentlich auch entspannter und friedvoller Tag. Vielleicht weil ich wußte, daß es nur eine Frage der Zeit war, wann ich wieder herauskam. Amelia und Maria Luisa wußten, wo ich war und daß ich keinen Schaden erlitten hatte. Die Sache war in Gang gesetzt, und jetzt liefen die Zahnräder still und ruhig und vorhersehbar wie Jens Olsens Weltuhr in Kopenhagen. Es war nicht anders als bei einem Auftrag, wenn ich auf die Beute wartete. Man mußte in sich selbst eindringen und die Zeit anhalten.
    Ich las Zeitung, schlief ein wenig, rauchte, bewegte mich eine halbe Stunde im Hof und aß wieder. Diesmal Hühnersuppe, gefolgt von trucha à la Navarra, einer gebratenen Forelle. Ich bat um Kaffee und lag auf dem Rücken und guckte an die Decke und kann mich eigentlich nicht erinnern, wie der Abend verlief.
    Aber ich trank Wasser, las die Zeitungen noch einmal, hörte Radio – den Fernseher hatten sie nicht gebracht – und dachte an meine Familie. Ich sah bestimmte Szenen vor meinem inneren Auge. Schöne Szenen mit Amelia, Maria Luisa und mir in dem Haus auf dem Berg über San Sebastian. Vielleicht denkt man, solch ein Tag würde dazu benutzt, über das Leben und andere große Fragen nachzudenken. Aber derlei Gedanken kommen einem nicht, bloß weil man Zeit hat. Die Zeit war einfach da, und sie verging langsam und zäh, aber ein Tag besteht eben auch nur aus soundsovielen Sekunden. Dann machte ich ein paar Liegestütze und Bauchrollen und legte mich auf den Rücken und wartete auf den Schlaf, der wie üblich ungern kommen wollte.
    Schließlich aber schlief ich einigermaßen zufrieden ein, ohne zu ahnen, daß meine Welt zur selben Zeit völlig zerbrach. Daß ohne mein Wissen meine Reise in die Hölle bereits begonnen hatte.
     
    5
    Ich hatte einen schlimmen Traum gehabt, als sie mich weckten.
    Ich war auf einer Zeltwanderung gewesen, als wäre ich wieder ein Pfadfinder, aber das Lager stand in einer seltsamen Science-fiction-Landschaft mit künstlichen Bergen, falschem Schnee und einem feingeschliffenen ultrablauen Licht wie aus Hollywoods Traumfabrik oder einem Multimediacomputer. Der Horizont verdunkelte sich, als zöge ein Unwetter herauf. Das Feuerchen war ein Gasofen, der in der Mitte einer offenen Grotte mit grauen und schleimigen Wänden stand. Ich beugte mich über einen Kessel, der wie eine heiße Quelle in Island blubberte. In der Ferne schrie von Zeit zu Zeit ein Vogel. Es klang eher wie eine Mischung aus verzweifeltem Frauengelächter und Höllenröcheln. Oscar war auch da. Er kehrte mir den Rücken zu und trug einen seiner tadellosen Anzüge. Er war noch größer als sonst und hielt ein Buch in der Hand. Es war in schwarzen Stoff eingebunden. Er hatte ein weißes Hemd mit lila Schlips an.
    Neben ihm stand Gloria. Sie war rothaarig und trug erst ein langes Gewand, wie es die Frauen in meiner Jugendzeit trugen, und war dann auf einmal nackt, nur ihr Geschlecht war von einem roten Quadrat bedeckt, wie man es aus moralischen Gründen in Zeitungen verwendet. Oscar reichte ihr das Buch, und sie wollte es entgegennehmen, aber sie hatte krumme, alte Hände, an denen die Nägel lang gewachsen waren, aber offensichtlich in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Oscar sagte: »Nimm das Rechnungsbuch. Alles ist eingetragen und geprüft.« Gloria besann sich anders und wollte das schwere schwarze Buch doch nicht annehmen und sagte: »Ich bat um die Stunde der Abrechnung, nicht um das Rechnungsbuch.« Ich wollte mich ihnen zuwenden, um zu bestätigen, daß Oscar das richtige Buch in Händen hielt, aber ich wußte, ich mußte den blubbernden Kessel umrühren und wagte nicht, den Kopf zu drehen, und trotzdem sah ich alles. Ich hatte große, große Angst.
    Ich empfand auch großen Kummer, weil ich Oscar nicht zu erzählen wagte, daß er das richtige Buch gefunden hatte. Ich kämpfte darum aufzuwachen, denn im Traum erzählte mir eine innere Stimme, daß bald mein eigenes Gesicht in dem Teufelsgebräu erscheinen würde, überzogen von

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