Der Augenblick der Wahrheit
nässenden Geschwüren. Über der ganzen Szenerie lag dieses zarte dunkellila Licht, vermischt mit silbrigen, giftigen Streifen.
Ich erwachte mit einem Ruck.
Der fette Wärter stand in der Tür. Er sah ganz wirr aus. Ich war schweißnaß, mein Herz klopfte, und ich fühlte mich, als flösse elektrischer Strom durch mein Hirn, während ich versuchte, mit aller Gewalt wach zu werden und das Unterbewußtsein in die Flucht zu schlagen. Ich setzte mich so schnell auf und schüttelte die Beine, daß mir schwindlig wurde, und einen Moment lang wurde mir schwarz vor Augen.
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe, Señor Lime«, sagte der fette Wärter. Ich hörte seine Stimme zum ersten Mal. Sie paßte überhaupt nicht zu ihm. In einem so umfangreichen Körper hätte ich einen tiefen, gutturalen Baß und die harten Madrider Konsonanten erwartet, aber er hatte eine dünne, helle Stimme, und sein Dialekt schien mir eher aus Badajoz in der Estremadura zu stammen. Ich kannte die Stadt.
Ich hatte einen Sommer lang die vielen Störche auf den alten, ausgedörrten Ziegeldächern aufgenommen, die dort in ihren Nestern saßen wie schon zu Zeiten, als die Konquistadoren zum Morden, Vergewaltigen und Plündern der Neuen Welt auszogen.
Die Bilder der weißen, stattlichen Vögel auf den Dächern, die sein weicher Dialekt in mir hervorrief, beruhigten mich, und mein Herz hörte auf zu rasen, als würde ich von jemandem verfolgt.
»Schon gut«, sagte ich, rieb mir die Augen und band aus alter Gewohnheit mein Haar zum Zopf.
»Darf ich Señor Lime höflichst bitten, mir zu folgen?« sagte er.
Seine Höflichkeit machte mich mißtrauisch.
»Wie spät ist es?«
»Kurz nach sieben.«
»Das heißt, ihr entlaßt mich jetzt. Der Richter ist zeitig auf.«
»Wenn Sie mir freundlicherweise einfach folgen würden, Señor Lime«, sagte er.
»Worum geht’s? Und wohin?«
»Señor Lime, ich bitte Sie. Kommen Sie jetzt. Ein paar Freunde warten auf Sie. Es geschieht Ihnen nichts. Das garantiere ich Ihnen.«
Ich las Verzweiflung und Ehrlichkeit in seinem Gesicht und glaubte ihm.
»Können Sie mich eine Minute allein lassen?« fragte ich freundlich.
Er verließ die Zelle, ließ die Tür aber einen Spaltbreit offen.
Ich urinierte, spritzte mir Wasser ins Gesicht und band ein Gummiband um den Zopf, dann schlüpfte ich in meine Jeans und zog mein Hemd über das T-Shirt. Ich war immer noch ein bißchen benommen, wie das so ist, wenn man schlecht geträumt hat und geweckt worden ist, ehe der Traum sich aufgelöst hat oder man wieder in traumlosen Schlaf fällt.
Wir trotteten durch den Gang. In meinem Zellenblock war es nach wie vor still, aber schon ein paar Treppenstufen weiter oben vernahm ich die berauschenden Töne der morgendlichen Symphonie Madrids. Meine Laune hob sich bei dem Gedanken, daß ich meine Frau und meine Tochter bald wiedersehen würde.
Wir kamen in einen breiten Gang. Es herrschte Verkehr. Das Wort fiel mir ein, weil mehrere Menschen von einem Ort zum andern unterwegs waren. Ich war so lange allein gewesen, daß ein paar Leute auf einmal überwältigend wirkten. Man hörte das Geräusch ihrer geschäftigen Schuhe vor dem fernen Rauschen von Madrids gigantischem Morgenverkehr, das so wiedererkennbar freundlich war wie das eigene Gesicht bei der Rasur. Manche nickten, die meisten sahen weg. Ich hatte nicht sehr viele Stunden in Isolation verbracht, aber ich empfand es wie eine Ewigkeit. Ich verstand, welch grausame Strafe die Isolationshaft war. Ich verstand, warum Menschen, die das Wochen und Monate aushalten müssen, letztendlich weich werden. Der Mensch ist ein soziales Tier.
Wir betraten ein großes Büro. Der Richter saß hinter einem Schreibtisch, vor ihm Gloria und Oscar. Sie sahen aus, als wären sie dem Tod begegnet. Gloria war verweint. So hatte ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Ohne das übliche sorgfältige Make-up sah sie plötzlich älter aus. Ihr Gesicht schien in großer Eile geschminkt worden zu sein. Aber mehr Sorgen machte mir ihre Miene. Sie schien die ganze Kraft verloren zu haben, die ihr schönes, reifes Gesicht sonst ausstrahlte. Oscar war wie versteinert und trotzdem nervös in seiner gewohnten zurückgehaltenen Energie.
»Das wurde ja auch Zeit«, sagte ich heiter-ironisch. Das war unser Umgangston. »Ich dachte schon, ihr wolltet mich da unten vermodern lassen.«
»Setz dich, Peter«, sagte Oscar trocken.
Die Angst ließ mir die Galle in die Kehle steigen.
»Ist was mit
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