Der Augenblick der Wahrheit
Geheimdienst hatten gewisse Informationen, daß sie sie ausfindig gemacht hatten und sie eliminieren wollten. Der Sprengstoff ist der altbekannte Semtex aus der ehemaligen Tschechoslowakei. Es sind Unmengen davon im Umlauf. Vielleicht haben sie ihn von der IRA oder den alten Freunden aus der DDR. Alle anderen Spuren verlaufen im Sande.«
Er hob bedauernd die Hände.
»Wie konnten sie sich denn so irren?« fragte ich.
»Carmen Arrese hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Ihrer Gattin, Señor Lime.«
Carmen hatte mit ihrem Mann, einem Anwalt, in der Wohnung unter uns gewohnt. Beide waren zusammen mit ihrer Tochter umgekommen, die im gleichen Alter wie Maria Luisa war. Sie waren beide Mitte Dreißig.
»Carmen Arreses Akzent war andalusisch«, sagte ich. »Sie hatte nicht den geringsten baskischen Tonfall.«
»Ihre Eltern stammten aus Sevilla, obwohl sie in Pamplona geboren ist. Wir brachten ihr die Sprache ihrer Kindheit wieder bei. Das war ein Teil ihres Identitätswechsels. Ihrer neuen Legende, ihres neuen Lebens. Das ist nicht nur eine Sache des anderen Aussehens. Wir haben ihr ein ganz neues Leben gegeben. Nicht mal ihr Mann wußte etwas.«
»Aber sie war zehn Jahre jünger. Wieso haben sie sich vertan?«
»Señor Lime, Ihre Gattin war eine schöne Frau, wie ich den Fotos entnehme. Gott sei ihrer Seele gnädig. Sie konnte leicht für zehn Jahre jünger gehalten werden. Carmen sah älter aus.
Eigentlich war sie auch älter. Wir haben sie jünger gemacht.
Vielleicht haben sich die Terroristen geirrt und sind in die falsche Wohnung gegangen. Haben die Falsche getötet, ehe sie die Sprengladung anbrachten.«
»Aber warum gleich das ganze Haus in die Luft sprengen?«
»Wir glauben, sie haben zuviel genommen. Wir gehen davon aus, daß sie unerfahren waren. Heutzutage hat die ETA Schwierigkeiten, gute Leute zu rekrutieren. Vielleicht war auch ausströmendes Gas im Spiel. Aber wir sind der Meinung, daß Ihre Familie Opfer einer Verwechslung geworden ist. Der Anschlag war nicht gegen Sie gerichtet, sondern gegen Ihre Nachbarin. Es tut mir leid.«
»Aber warum überhaupt die Sprengladung?«
»Warum Terror? Angst und Furcht sind das innerste Wesen des Terrors, nicht Rationalität.«
»Also wird die Sache eingestellt«, sagte ich.
Er richtete sich im Stuhl auf. »Keinesfalls. Aber andere, kompetentere Organe werden sich damit befassen. Sie wissen, wieviel der Staat für den Kampf gegen den Terror ausgibt. Die Arbeit wird intensiviert werden. Mein Job besteht im Aufklären ganz gewöhnlicher Morde, hinter denen oft einfache menschliche Motive wie Sex, Gier, Eifersucht und Trunksucht stehen. Madrid ist eine Stadt, die genügend Aufgaben für mich bereithält. Um die Sicherheit des Staates müssen sich andere kümmern.«
Er sah mich bedauernd an. Eigentlich brauchte er sich ja nicht zu entschuldigen. Er konnte nichts dafür, daß wir am falschen Ort gewohnt haben. Aber ich war trotzdem wütend, weil sie in unserer unmittelbaren Nähe eine tickende Bombe angebracht hatten, ohne uns zu informieren. Irgendwie war es die Schuld des Staates, aber meine Wut richtete sich noch immer gegen die unbekannten Attentäter, die nun auf eine Art handgreiflicher geworden waren.
Rodriques erhob sich, dankte für die Zusammenarbeit und kondolierte noch einmal. Ich blieb sitzen und bestellte noch einen Kaffee, während das Licht über dem Platz blau wurde.
Langsam füllte sich das Alemana mit jungen Studenten und Studentinnen aus den Instituten der Nachbarschaft, mit ihren Notizbüchern und ihrer optimistischen Jugend und ihrem Glauben an die unendlichen Möglichkeiten der Zukunft. Ich saß allein am Fenster und wußte, daß Felipe dafür sorgen würde, daß ich hier in Ruhe sitzen bleiben durfte.
Oscar und Gloria hatten sich um alle praktischen Dinge gekümmert, und in der ersten Woche hatte ich bei ihnen gewohnt. Mein Schwiegervater und ich hatten die Beerdigung geregelt, nachdem die Leichen nach der Obduktion freigegeben worden waren. Wir waren eigentlich immer höflich und freundlich zueinander gewesen, aber nie vertraulich. Die Trauer schien uns einander näherzubringen, ohne daß wir darüber sprachen. Das war nicht Don Alfonzos Stil. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er als Offizier der Guardia Civil und Chef in einem von Francos zahlreichen Geheimdiensten dem Caudillo gedient. Er war fast siebzig, ein in sich zusammengesunkener kleiner Mann, der nun selber dem älteren Franco ähnelte. Wie so viele andere hatte er erst
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