Der Augenblick der Wahrheit
der Diktatur gedient, dann der Übergangsregierung und später der Demokratie. Waren seine Hände vom Blut der Folteropfer befleckt, zeigte er es nicht, und es war nie untersucht worden. Es gab Dinge im Spanien der Versöhnung nach dem Tod des Diktators, die alle lieber unausgesprochen ließen.
Das Begräbnis sollte in aller Stille vor sich gehen, und auf dem Friedhof waren dann auch nur Don Alfonzo, Oscar, Gloria und ich mit dem Priester, dem Ministranten und dem Totengräber versammelt, aber außerhalb des Friedhofs zeigten die Kameralinsen unerbittlich auf uns, nur von der Polizei auf Abstand gehalten. Das Ganze war so privat wie eine Nachrichtensendung. Das einzige, was meinen Kollegen die Bilder vermasselte, war der strömende Madrider Regen. Oder womöglich auch gerade nicht. Die schweren schwarzen Wolken waren als Theaterkulisse für den letzten Akt der Tragödie wie bestellt. Über den Bergen war symbolisch ein Gewitter heraufgezogen, und als wir am Sarg standen, brach der Regen los. Gewitterblitze als Blitzlichtgewitter. Auch das war fast symbolisch für die Tage, die vor mir lagen. Mein ganzes Erwachsenenleben war ich Paparazzo gewesen. Ich haßte den Ausdruck, aber er bezeichnete meine Arbeit wohl ganz gut.
Auch wenn ich mich selbst immer nur Fotoreporter genannt hatte. Nun wurde ich selbst überall von Paparazzi gejagt.
Es hatte am Morgen meiner Entlassung aus dem Gefängnis angefangen. Madrid hatte live im Frühstücksfernsehen erlebt, wie ich den Reporter von El Mundo zu Boden schickte. Mein tränennasses Gesicht hatte auf der Vorderseite aller Boulevardblätter geprangt und war in den seriöseren Zeitungen an herausragender Stelle auf den mittleren Seiten zu sehen gewesen. Ich wurde bis zu Glorias und Oscars Wohnung verfolgt, bis zur Polizei, in Restaurants, ins Büro. Eine Woche lang war ständig eine Kamera auf mich gerichtet. Daß das unangenehm war, versteht sich von selbst. Hatte ich mit meinen eigenen Opfern gefühlt? Nicht sonderlich. Ich empfand nichts anderes als Schuld, Zorn und Trauer und dachte nur an mich selbst. Nach dem Begräbnis hofften wir, Frieden zu finden. Aber auch hier vor dem Friedhof, in dessen Nähe das Haus meines Schwiegervaters steht, war die Meute hinter mir her. Wie Schatten im Hades folgten sie mir, einerlei wo ich mich aufhielt.
Sie appellierten an mein Verständnis. Bettelten um Zusammenarbeit. Versprachen mir Geld für ein Exklusivinterview und illustrierten ihre Fernsehsendungen und Zeitungen mit Fotos meines untröstlichen Gesichts vor der Brandstätte und mit denen des Ministers, der den hübschen Zeh der italienischen Schauspielerin küßt. Meine eigenen Worte an andere Berühmtheiten hörte ich als Echo in der Kakophonie der Stimmen, die überall um mich herum brummelten.
Ich kann mich nicht erinnern, was der Priester sagte. Ich kann mich kaum an die Beerdigung erinnern. Wir hatten Amelia und Maria Luisa in einen gemeinsamen Sarg gelegt, ich warf eine Blume darauf und ging Arm in Arm mit Don Alfonzo davon.
Wir hatten keine Tränen mehr zu vergießen. Eigentlich kann ich mich nur an das Trommeln des Regens auf den weißen Sarg und an den Priester unter seinem schwarzen Schirm erinnern, der von dem Ministranten gehalten wurde, während auf Latein die Worte Aus Erde bist du gekommen, zu Erde sollst du werden, aus Erde wirst du wiederauferstehen erklangen. In dem Augenblick glaubte ich nicht daran. Ich war wütend auf Gott, also mußte ich wohl doch an ihn glauben, da ich ihn verfluchen konnte, aber alles war noch immer schwarz und dunkel wie der Himmel, aus dem der Regen herniederstürzte.
Ich hätte mich am liebsten betrunken, aber Gloria stopfte mir eine Schlaftablette in den Mund und steckte mich wie ein Baby ins Bett.
Das ist nun fast zwei Monate her. Der laue Mai war in den warmen Juni und den heißen Juli übergegangen, und wenn die Augustsonne die Stadt zum Kochen brachte, würde Madrid die Schotten bald dichtmachen. Ich war in Don Alfonzos behagliche, komfortable Villa gezogen, die in einem kleinen Dorf vor Madrid lag. Dort am Fuße der Berge verbrachte er seinen Lebensabend mit der Lektüre von Geschichtsbüchern über den spanischen Bürgerkrieg und dem Züchten von Tomaten und von Orchideen und anderen Blumen. Ich konnte Glorias betuliche Fürsorge zum Schluß nicht mehr ertragen und war zu meinem Schwiegervater gezogen, der mir ein Giebelzimmer zur Verfügung stellte; von dort hatte ich einen Blick auf die Hochebene, die irgendwo am Horizont
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