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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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Menschen übernahmen mein Leben und führten mich aus dem Dunkel des Tunnels in einen bleichen, kränklichen Sonnenschein. Um die praktischen Dinge kümmerten sich Gloria und Oscar mit gewohnter Effizienz: um die Versicherung, die Entschädigungsforderungen gegen den spanischen Staat und den Verkauf der Fotos, die um die Welt gingen und uns ein Vermögen einbrachten. Die zehn Bilder, die Oscar aus meiner Wohnung mitgenommen hatte, waren nach wie vor in seiner Obhut. Ich wollte die Wohnung nicht wieder aufbauen lassen und verkaufte sie an die Versicherungsgesellschaft. Der Schadensersatz war groß, aber meine verbrannten Negative waren unbezahlbar. Die feuersicheren Archivschränke waren weder explosions-noch feuersicher gewesen. Gloria verklagte den Hersteller und die Versicherungsgesellschaft. Sie sollten mir den künstlerischen Wert der Negative erstatten. Das verborgene Vermögen, das in jenen Sekundenbruchteilen lag, in denen ich die Wirklichkeit jahrelang eingefangen und festgehalten hatte. Mein Unglück gab den hitzigen Anwälten vieler Kanzleien Arbeit für Tausende von Stunden. Gloria und Oscar hatten dabei von meiner Seite freie Hand.
    In den ersten Tagen nach dem Unglück liefen die Medien Amok. Zweierlei verstärkte den gewaltigen Mediensturm, der über die Stadt ging. Erstens die Fotos des Ministers. Und zweitens die offizielle Mitteilung, daß das Feuer als Tötungsdelikt angesehen wurde. Amelia war vor Ausbruch des Feuers erdrosselt worden. Maria Luisa war an Rauchvergiftung gestorben und nicht verbrannt. Die übrigen Toten waren in den Flammen umgekommen. In der Wohnung waren Sprengstoffreste gefunden worden. Die Medien spekulierten wie verrückt, warum jemand meine Wohnung in die Luft hätte sprengen sollen. Vorsichtig wiesen sie auf den Minister hin.
    Natürlich stritt er alles ab, mußte aber wegen der erotischen Fotos zurücktreten. Sie paßten nicht zu einer Regierung, bei der die Werte der Familie im Mittelpunkt standen.
    Kriminalkommissar Rodriques tappte im dunkeln. Ab und zu kam er, um mich zu informieren. Es gab nur einen einzigen Zeugen, der gesehen hatte, wie zwei Männer kurz vor der Explosion die Wohnung verlassen hatten. Sie waren schwarzhaarig wie Millionen Spanier und muskulös. Sie waren Richtung Puerta del Sol verschwunden. Dort endeten alle Spuren. Rodriques spekulierte, ob es sich womöglich um ein ETA-Attentat handelte, das den Falschen getroffen hatte. Im Haus lebte nämlich eine Frau unter falschem Namen. Sie war Baskin und hatte vor zehn Jahren gegen die ETA ausgesagt. Sie war aus verschmähter Liebe zur Denunziantin geworden, man kennt das. Eins der führenden Mitglieder hatte sie wegen einer anderen verlassen. Häufig spielt das Banale im Leben eine größere Rolle, als Romanautoren glauben. Sie hatte ein ETA-Kommando verraten, das in Barcelona im Untergrund operierte, und stand deshalb unter Zeugenschutz. Eine neue Identität und ein neues Leben in der Millionenstadt Madrid. Hier konnte jeder untertauchen.
    »Vielleicht haben sie sie doch ausfindig gemacht, Señor Lime«, sagte Rodriques. »Die Vergangenheit holt uns immer ein.«
    Wir saßen an Hemingways Tisch in der Cervecería Alemana und tranken Kaffee. Der alte Felipe wachte über mich, als wäre ich ein zerbrechliches Stück Porzellan. Ich weiß nicht, wieso ich weiterhin ins Alemana ging, das meiner alten Wohnung gegenüberlag. Mein ehemaliges Zuhause war eine offene Wunde in der Häuserfront, abgerissen, umgeben von einem grünen Bretterzaun, während die Baugenehmigungsanträge die verschlungenen Wege der städtischen Bürokratie durchliefen.
    Ansonsten sah der Platz im späten Nachmittagslicht wie immer aus. Die alten Männer und Frauen saßen auf den Bänken und plauschten oder lasen Zeitung, und bald würden die Kinder aus der Schule kommen und mit ihren Spielen beginnen. Es tat weh, aber das Alemana war mein erster Schlupfwinkel in Madrid gewesen, und obwohl der Blick auf mein nicht mehr vorhandenes Haus schmerzte, war der Ort auch eine Nabelschnur zur Vergangenheit, an die ich immer öfter denken mußte. Ich wollte Amelia und Maria Luisa nicht vergessen. Die Erinnerung an sie war zugleich voll Freude und voll Schmerz, zugleich melancholisch und schneidend, aber es war das einzige, was mir noch blieb.
    »Das ist also Ihre Theorie?« sagte ich.
    »Das ist das Beste, was ich Ihnen bieten kann. Die Terroristen sind wieder sehr aktiv. Sie vergessen nie, und am wenigsten vergessen sie Verräter. Die Kollegen im

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