Der Augenblick der Wahrheit
daß es den blutenden Rückenmuskel und die kleine Stelle bloßlegte, an der die Klinge in die inneren Organe eindringen sollte. Es war ganz still in der Arena, er wackelte ein wenig mit dem Handgelenk, und der Augenblick stand still, festgefroren, lange. Dann griffen Mann und Stier zugleich an, und er beugte sich geschmeidig über die Hörner, stieß den Degen tief hinein und durchschnitt die Halsschlagader. Der Stier sank in die Knie, blieb einen Moment so und spuckte Blut, bevor er auf die Seite kippte und der Gehilfe ihm mit seinem kurzen Messer den Gnadenstoß gab.
Ich stand mit auf und fiel in den rauschenden Beifall ein, der auf den jungen Mann herniederwogte, der arrogant und in jugendlichem Hochmut neben seiner Beute stand. Taschentücher wurden gezückt, und mit Erlaubnis des Präsidenten wurden Ohren und Schwanz des Stieres abgeschnitten und ihm als Trophäe überreicht, ehe die Maultiere das tapfere Tier unter tosendem Applaus durch die Arena schleppten, damit ihm noch im Tode für seinen Mut und seine Tapferkeit gehuldigt werden konnte. Ich hatte vergessen, wie die barbarische Schau mit einemmal als sublime Kunst auferstehen konnte, so daß man sein Mitleid mit dem Tier eine Weile verdrängte.
»Danken wir Gott für unseren Helden«, sagte Don Felipe.
»Oder Don Alfonzo für die Karten«, sagte ich.
Er lachte sein kurzes, trockenes Lachen.
»Ja. Und nun sollten wir gehen. Wir hatten das Glück, einen der seltenen Augenblicke zu erleben, in denen Kunst entsteht und vor unseren Augen stirbt. Er kommt heute wohl kaum noch einmal oder womöglich nie.«
»Ich dachte, Sie hätten etwas für mich.«
»Habe ich auch. Aber wir brauchen hier nicht mehr zu sitzen.
Von jetzt an kann es nur noch enttäuschend werden, und ich habe mich vergewissert, daß wir nicht überwacht werden.«
»Sind Sie da sicher?«
»Nun verlassen Sie sich mal auf mich, Señor Lime. Wo ich mich nun auf Sie verlasse. Kommen Sie!«
Er stand auf, und wir gingen durch die Reihen zum Zwischengang und in das eigentliche Arenengebäude. In dem breiten Gang unter den geschwungenen Bögen hielten sich nur wenige Menschen auf. Er steuerte auf einen der vielen Stände zu und bestellte zwei Kognaks, und wir stellten uns in einen der Bögen, von wo wir durch die Maueröffnung oder Schießscharte auf den Platz vor der Arena schauen konnten, wo es nach wie vor von Menschen wimmelte. Das Summen der Stimmen hatte an Intensität zugenommen.
»Sie rechnen damit, daß unser junger andalusischer Maestro nach seiner kunstvollen Leistung auf den Schultern hinausgetragen wird«, sagte Don Felipe und reichte mir die Sonntagsbeilage. Aus der Arena drang wieder Musik.
Don Felipe fuhr fort: »Ich habe ein Abhörprotokoll in die Beilage gelegt. Es stammt aus einem Archiv, das nicht existiert
– zumindest offiziell. Ich habe die Archivnummern entfernt, mit denen das Protokoll identifiziert werden könnte, wenn es in falsche Hände fiele, aber Sie haben mein Wort, daß es echt ist.
Das ist eine Ehrenschuld, die ich bezahle. Ich breche das Gesetz, ich breche mein Schweigegelübde, ich breche meinen Eid auf den Caudillo, nie Geheimnisse meiner Arbeit zu verraten, aber ich fühle mit Don Alfonzo und betrauere seinen Verlust, der auch Ihr Verlust ist.«
»Was steht darin?«
»Lesen Sie es. Zwei Männer unterhalten sich. Der eine heißt Viktor Ljubimow. Offiziell war er lange Jahre Kulturattaché, aber sein eigentlicher Arbeitgeber war der KGB. In seine Verantwortlichkeit fiel die PCE, die Kommunistische Partei Spaniens. Er war ein Kurier, der der Partei Geld brachte, und ein Agent, der mithalf, die PCE zu organisieren. Wie Sie wissen, war die Partei vor dem Übergang illegal.«
Ich nickte. Er hatte das spanische Wort transitión gebraucht.
Es beschrieb die merkwürdigen und gefährlichen Jahre von General Francos Tod 1975 bis zu den ersten freien Parlamentswahlen im Juni 1977. Kurz vor seinem Tod hatte Franco noch fünf Hinrichtungen angeordnet. Es stand nicht in den Karten, daß der König oder die Machthaber des alten Regimes den Weg der Demokratie wählen würden. Die jüngeren Kräfte in Francos einziger zugelassener Partei sollten freiwillig ihr eigenes Machtmonopol auflösen und Spanien von der Diktatur zur Demokratie führen, ohne das Heer und den aufgeblähten Sicherheitsapparat so zu vergrätzen, daß ein klassischer lateinamerikanischer Militärputsch dabei herauskommen würde. Es war eine erregende und spannende Periode in Spanien, ein Traum
Weitere Kostenlose Bücher