Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
gehegtes, üppig zugewuchertes Paradies aus Sträuchern, Kräutern, Rosen und Gräsern. Und so wie der Garten ist auch das Haus: ein üppiges Paradies, von Vielfalt und Gastlichkeit erfüllt. Es hat ein Souterrain und zahlreiche Zimmer, von denen ein großer Teil auch dazu dient, Gäste zu beherbergen. Die offene Küche ist groß, in den Schubladen und Schränken befindet sich alles, um schnell ein Essen für mehrere Leute zu kochen. Im danebenliegenden Eßzimmer steht ein umfangreicher Tisch mit Stühlen für zwölf Personen. Und auch der Livingroom, mit Wintergarten zur Straße hin, wartet mit Sesseln, Stühlen und gepolsterten Liegen auf gutgelaunte Gäste, die Platz nehmen und sich wohlfühlen, wie wir. Diese ungewöhnliche Gastfreundschaft ist sozusagen eine Herzensangelegenheit von Barbara Duden, die sich damit leistet, was viele sich leisten könnten. Aber irgendwie herrscht vermutlich eine Art Xenophobie vor, selbst Freunden gegenüber. Ivan Illich, der hier bis zu seinem Tod im Dezember 2002 lebte, sprach von der »Aura der Dudenschen Gastfreundschaft«, die man auch noch weit jenseits der Schwelle des Hauses spüre. Hier wurde jahrelang mit Freunden, Schülern und Fremden aus Europa, Amerika und Lateinamerika gemeinsam gegessen, diskutiert und nachgedacht. Nach Illichs Tod ist es etwas ruhiger geworden. Aber als wir eintreffen, ist das Haus voll mit Israelis und Palästinensern. Schauspieler, die zusammen mit Schauspielern der Bremer Shakespeare Company ihr Stück »Tower of Babylon« aufführen.
Wir sitzen im Wintergarten, trinken Tee, Barbara Duden erzählt und raucht: »Ein wichtiger Anstoß für mein Interesse an der Geschichte des Körpers war die Erkenntnis, daß die Geschichtslosigkeit der Frau damit zu tun hat, daß sie durch ihre körperliche Konstitution festgelegt ist. Und deshalb haben wir damals, als frauenbewegte Frauen, angefangen, über Körper zu arbeiten, denn wir sagten, die Geschichte der Frauen beginnt mit ihrer Körperlichkeit. Und da aber erst mal als Ideologie von Biologie, als soziale Klassifikation. Damit hat sich beispielsweise Claudia Honegger damals ausführlich beschäftigt, mit der Medizin im 19. Jahrhundert. Ich wollte noch weiter zurückgehen, in die Zeit vor 1800, denn 1800 ist ja die große Wasserscheide, der Umbruch in die bürgerliche Gesellschaft, in die Industriegesellschaft, bei dem sich sozusagen die Tiefenschichten der Gesellschaft verändert haben. Die Wahrnehmung, die Begrifflichkeit, das Weltbild, die Objekte, alles! Und ich bin dann auf diese ›Observationes clinicae‹, also auf ärztliche Krankengeschichten, gestoßen, die der Stadtarzt Johannes Pelargus Storch Mitte des 18. Jahrhunderts in der protestantischen Residenzstadt Eisenach verfaßt hat. Er hat Frauen aller Stände behandelt, adelige Fräuleins, Handwerkerfrauen, Ammen, Bauernmädchen, und acht Bände darüber angelegt. Er hat auch Kinder und Soldaten behandelt; ich habe mich aber ausschließlich auf die Frauen konzentriert.
Anfangs war mir das, was ich da las, vollkommen unverständlich. Es schien unmöglich, das Körpererlebnis von Frauen im 18. Jahrhundert erforschbar und erfahrbar zu machen. Das war mir alles total fremd, worüber diese Frauen klagten, unklar, was sie meinten, wenn sie von Geblüt und Frucht, offenen Füßen und Kälte, von Fluß und Stockung gesprochen haben. Die Frauen klagten vor dem Medicus über ihre Herzenserschütterung, den Riß am Herzen, die Kälte der Gebärmutter, die Verstocktheit im Bauch. Das liest sich beispielsweise so oder ähnlich: ›Am 12. April 1725 kam eine sanguinisch-cholerische Frau zu mir und klagete, wes Maßen sie mit ihrem Miethmanne sich verstritten habe, er sie nicht anhören wollte, an den Armen packte und zur Tür hinausschickte. Nun klaget sie, daß sie dieses Gift seit Jahren nicht aussschütten kann und ihr deshalb Rhabarber gegeben werden soll, um es wieder loszuwerden.‹ Also, daß diese Frau zu ihrem Arzt kommt und sozusagen über die geschwollene Wut klagt, die ihr wegen der Unverschämtheit des Miethmannes (eines Mieters, Anm. G. G.) wie ein Knoten im Bauche sitzt, und daß diese Wahrnehmung sie sowohl zum Arzt als auch zum Rhabarber führt, würde sie hundert Jahre später zum Irrenarzt führen. Die körperliche Reaktion wäre etwas Uneigentliches. Also, die Aufzeichnungen über diese 1600 einzelnen Frauen waren für mich lebensprägend! Das Befremden zuallererst, zu dem sie mich gezwungen haben. Wie haben sich in diesen Frauen
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