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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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eine Zeile aus einem Baudelaire-Gedicht. Und da ist dann eine wunderbare Mischung zusammengekommen, auch aus diesem Arbeitszusammenhang ›Mechanisierung der Kopfarbeit‹, also da waren Leute aus der Kybernetik, aus den Naturwissenschaften, aus den Geisteswissenschaften, die da zusammengearbeitet haben mit viel Liebe. Solch interdisziplinäres Zusammenspiel hat die Uni Bremen ja durchaus mal ausgezeichnet. Und dann haben wir achtzehn Beiträge gehabt, sehr unterschiedliche, da sagte ich mir, jetzt bekommt jeder Beitrag ein Heftchen geschneidert. Wir hatten nachher dann achtzehn Heftchen in einer schönen Mappe. Ich habe damals auch dem wunderbaren Roberto Calasso, dem Verleger des exquisiten Mailänder Adelphi Verlages, die Festschrift geschickt. Er ist ja nicht nur Verleger, er ist auch Autor. Auch seine Frau, die Fleur Jäggi, ist Autorin. Na ja, sie haben diesen wunderbaren Verlag und eben das Kleingeld von Fiat. Jedenfalls hat er gesagt: Das ist die schönste Festschrift, die ich je gesehen habe. Dieses Lob hat mich sehr gefreut. Also die Sammlung trägt wilde Züge. Da ist ein Text dabei über Alfred Seidel, das war ein alter Freund von Alfred aus der Heidelberger Studienzeit, also aus den 20er Jahren, dieser Alfred gehörte damals schon in die Prinzhorn-Therapie, weil er unter schweren Depressionsattacken litt. Sohn-Rethel sagte immer, er habe nie jemand Schlaueren kennengelernt, und das ohne jede Sinnlichkeit. Und der schrieb mit 23 Jahren ein Werk, das hieß ›Bewußtsein als Verhängnis‹.«
    Wir lachen schallend, dann fährt unsere Gastgeberin fort: »Alfred liebte ihn sehr. Eines Tages hat sich Alfred Seidel das Leben genommen, und wißt ihr, wo? Auf dem Bahnhofsklo!
    Also, das war auch so ein Grund, weshalb ich mich aus der Uni-Buchhandlung zurückgezogen habe, um mich ganz Alfred und meinen unmittelbaren Interessen hier zu widmen. Es hat gereicht. Man kann sich nämlich überfordern, ganz schrecklich. Viele von den Leuten, die ich kannte, sind krank geworden davon. Barbara Herzbruch ist so ein Beispiel. Sie ist mit 44 gestorben, an Krebs. Ich bin am Wochenende immer nach Berlin gefahren, hab mir da eine kleine Wohnung genommen und habe sie besucht, da in Rudow, in der Onkologie. Dort ist die Barbara ganz jämmerlich eingegangen. Was mich betrifft, so habe ich es zum Glück immer geschafft, die Dinge dann zu ändern, wenn die Überforderung und die Unlust überhandgenommen haben. Das liegt wahrscheinlich an den wunderbaren Erfahrungen meiner Kindheit. Ich komme ja aus einer Familie, die war unendlich musikalisch – Adorno hat ja mal an Benjamin geschrieben: ›Musik ist Abschaffung von Angst.‹
    Mein Vater hatte Musik studiert. Meine Mutter hatte eine große handwerkliche, taktile Begabung, sie hatte Kunst studiert. Es gibt eine schöne Geschichte von ihr. Meine Eltern reisten mal in die USA, mein Vater hatte Bankgeschäfte zu erledigen, Vorfinanzierungen; da gab’s ein befreundetes jüdisches Bankhaus, und das Ganze dauerte seine Zeit. Meine Mutter sagte, mach du mal deine Geschäfte, ich gehe ins Metropolitan Museum. Dort traf sie zufällig auf einen der Leiter, er war Bremer aus der Kurfürstenallee. Sie konnte kaum Englisch und rief: ›Rettung! Haben sie eigentlich auch Spitzen hier?‹ Meine Mutter hatte sich nämlich aus Interesse auch mit Spitzen beschäftigt und konnte sogar selbst klöppeln. Also, sie hatten Spitzen, alles unsortiert und durcheinander. Sie erklärte sich bereit, das alles zu ordnen und zu sortieren, die Kustoden wurden geholt, und sie bekam alles, was sie brauchte. Sie hat die Spitzen nach Alter und Herkunft sortiert und auf Pappen gezogen, Spitzen aus dem 15. Jahrhundert, aus Brügge, aus Brüssel usw. Das war meine Mutter.
    Wir sind fünf Kinder, und alle haben Begabungen. Mein Bruder Christoph hat eine Begabung für Gläser; mit verbundenen Augen ertastet er ein Glas und kann sagen 16. Jahrhundert. Phantastisch. Und wir haben alle musiziert, ich spielte Klavier, die anderen Geige. Wir waren eine großbürgerliche Familie. Die Nachbarskinder sind sozusagen bei uns aufgewachsen, denn bei uns ging es überhaupt nicht spießig zu, es gab nicht diese autoritäre Welt, die ja noch verbindlich war, die gab’s bei uns nicht. Im Zentrum stand immer das Künstlerische. Das Musikalische war sozusagen der Gegenentwurf, den man sich leisten konnte durch die prosperierenden Geschäfte. Also wir sind nach Salzburg gefahren als Kinder, wir haben im Hotel Kobenzl gewohnt, in diesem

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