Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
zauberhaften Hotel, über der Stadt gelegen. Wir waren da befreundet mit allen, und ich saß mehr in der Küche als in unseren Zimmern. Ich habe mit George Szell Fußball gespielt, da war er Mitte fünfzig, so was, er war mit seinem Cleveland Orchestra da. Wir haben den Don Giovanni gesehen, mit Furtwängler, in der Felsenreitschule, ein herrliches Erlebnis, von dem ich heute noch …«
Ein junger Mann betritt den Laden, grüßt knapp und reicht Bettina Wassmann, die nahe der Tür sitzt, einen Zettel. Im gleichen Moment ertönt Dudelsackmusik. »Haben Sie einen Kassettenrekorder in der Tasche?« fragt Frau Wassmann ironisch. »Nee, Handy«, sagt der Kunde, klappt sein Mobiltelefon auf, tritt einen Schritt zur Seite und tauscht lautstark Banalitäten aus. Bettina Wassmann studiert den Zettel, nimmt einen Stift und korrigiert etwas, während der junge Mann das Gespräch beendet. Dann sagt sie in neutralem Tonfall: »Falsch geschrieben; Updike schreibt sich mit k, nicht mit c. Na, so geht’s schon mal.« Sie empfiehlt die Thalia Buchhandlung. Der junge Mann sagt: »Gut, mach ich, tschüß«, und verläßt ohne zu danken den Laden. »Damit finde ich mich immer sehr schlecht zurecht, mit unhöflichen Leuten. Auf dem Flohmarkt, das ist ja eine Massenveranstaltung, da kommen oft Leute an den Tisch, und wenn dir dann auch noch jemand die Ehre nimmt, deine Sachen schlechtmacht, um den Preis runterzutreiben, und du sitzt seit vier Uhr früh da, dann ist das deprimierend. So einfach sind die Zeiten ja nicht!
Das war auch mal anders, früher kamen hier andere Kunden rein. Also, jetzt nicht unbedingt nur sogenannte Intellektuelle, es war einfach bunter. Beispielsweise kam Anfang der 90er Jahre – Alfred war schon tot –, da kam Otto Rehhagel hier manchmal in den Laden, er war ja Bundestrainer bei Werder Bremen, hat hier einen wunderbaren Fußball entwickelt, und er war ein großer Gedichteleser, ein begeisterter. Er traf hier Reinhild Hoffmann, die nach Kresnik das Bremer Tanztheater machte. Und er hat uns ins Café eingeladen, weil er von ihr etwas wissen wollte über ihre Trainingsmethoden. So muß das sein, ein ständiger Austausch von Wissen, auch zwischen Leuten, die sich hier im Laden vielleicht nur zufällig treffen. Aber die Linken verachten ja den Fußball, die haben nie den Spaß mitempfinden können, den andere daran haben.
Es ist ja ein Spiel, bei dem es auch sehr um Körperintelligenz geht und um das blitzschnelle Zusammenwirken einer Gruppe. Aber man konnte einfach mit fast keinem über Fußball reden, außer mit Detlev Claussen, der diese schöne Adorno-Biographie gemacht hat. Oder auch mit Dietrich Sattler, dem Herausgeber der Hölderlin-Ausgabe, an der er zwanzig Jahre, glaube ich, gearbeitet hat. Der schrieb, als Werder Bremen zum zweiten oder dritten Mal doch nicht Meister wurde, einen Traueraufsatz. Das war genial gestrickt, nach dem Motiv der Kästchenwahl von Shakespeares ›Kaufmann von Venedig‹ – nur so für sich hat er das geschrieben, um über diese Niederlage hinwegzukommen, denn so eine Niederlage ist ja schwer für einen, der Fußball liebt. Und er hat mir diesen kleinen Essay hier gezeigt, und der war so zauberhaft geschrieben, daß ich sagte, hör mal, das muß unbedingt veröffentlicht werden. Mir fiel gleich Wagenbach ein, aber beim zweiten Nachdenken erinnerte ich mich, daß Wagenbach Sport haßt, so wie Churchill: ›No sports!‹, und ich dachte, na, das wird er wahrscheinlich nicht machen wollen. Aber es war einfach so toll geschrieben, daß ich’s ihm trotzdem gegeben habe. Und dann muß man ja auch noch wissen, daß es für Wagenbach ein Riesenproblem war, mit Dietrich Sattler mal ins Stadion zu gehen. Er hatte richtig eine Phobie, er bekam Zustände, wenn er sich zwischen Massen begeben sollte, dann auch noch zwischen hocherregte Massen! Ich habe ihn so reingeleitet, habe also auf ihn aufgepaßt. Wir saßen unter 40000 Fußballfans. Und hinter uns erschallte ein Chor von unglaublichen Männerstimmen. Das waren alles Werftarbeiter von der AG Weser; wenn die da in so einem 200 Meter langen Schiffsbauch arbeiten und dauernd einander was zurufen, dann kann man sich vorstellen, was die für Stimmen bekommen. Na ja, jedenfalls hat Wagenbach diesen Essay dann gedruckt, im Freibeuter.
Heute, wie gesagt, ist das alles viel schwieriger geworden. Eben andere Kunden. Ich muß flexibel sein. Ich arbeite da beispielsweise mit einer Modehandlung zusammen, mit einer alten Freundin von
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