Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
früher. Sie hat das beste Modegeschäft in Bremen. Eine Modefirma mit Literatur. Wir machen das vier- bis fünfmal im Jahr, Modenschauen, und ich mache das literarische Rahmenprogramm. Sensationell! Da erscheinen achtzig bis hundert Damen, Kundinnen, und zwischen den Defilees kommt dann z. B. Gertrude Stein ›Das Geld‹ oder von Schiller ›Das Glück‹. Viele der Damen sind leitende Geschäftsfrauen. Die eine oder andere kommt dann auch schon mal hier in den Laden und kauft Bücher, und zwar nicht zu knapp. So habe ich noch ein Standbein. Man muß ja. Aber ich mache meinen Weg nicht kaputt. Nur hier so zu sitzen und zu warten, das kann schlecht ausgehen. Am Samstag war’s z. B. sehr gut; es war sehr heiß, da saßen natürlich alle draußen, wir tranken ein Wasser, da rief jemand: ›Bettina, du hast Kunden‹! Die ganze Straße hat natürlich gelacht. Im Laden standen zwei Ehepaare und ich, sind fünf Personen. Da ist es hier ja schon überfüllt. Das waren Gäste der Stadt, und sie haben so wundervoll eingekauft, daß ich am Samstag eine richtig gute Kasse hatte. Bücherberge haben die gekauft, zauberhafte Menschen!
Für die Mieten war das wichtig. 600 Euro habe ich hier, und noch mal 600 Euro zu Hause. Also, machen wir uns nichts vor, die Zeiten sind ganz schwierig. Wir müssen wirklich immer sehen, wie wir es packen. Ganz viele Läden mußten hier raus. Mit dem Verlag – na ja, Verlag in dem Sinn ist es ja nicht, es ist eine Buchladenedition –, das habe ich einfach im Moment eingestellt. Meine Drucker haben auch Insolvenz gemacht. Niederschmetternd! Wir haben viel dieser Bibliothek von der Süddeutschen verkauft. Obwohl der Rabatt kaum der Rede wert ist, habe ich’s gemacht. 1000 Bände wurden verkauft!« Sie schlägt ein Buch auf. »Hört mal, ich habe hier den schönen Satz von Alfred gefunden: ›Aber auch die Freudsche Theorie gehört zur Priesterschaft des kapitalistischen Kults – das Verdrängte, die sündige Vorstellung ist das Kapital, ist die Hölle des Unbewußten, ver- zinst.‹ Ich muß jetzt Alfred wieder auflegen. So viel ist klar.«
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VOM SCHWINDEN DER SINNE
KÖRPERHISTORIKERIN
»Der handelnde Leib, seine Bewegungen und Rhythmen, seine Gesten und Kadenzen bilden das Zuhause, das mehr ist als Obdach, Zelt oder Haus.«
Ivan Illich
Barbara Duden, Prof. Dr. phil. am Institut f. Soziologie u. Sozialpsychologie d. Universität Hannover. 1948 Einschulung i. Neuhaus a. Schliersee, 1962 Abitur a. Helene Lange-Gymnasium i. Frankfurt/Höchst. 1963–1970 Studium d. Geschichte u. Anglistik in Wien u. Berlin. Ab d. 70er Jahren i. d. Frauenbewegung engagiert, 1976 Mitbegründerin d. Frauenzeitschrift »Courage« i. Berlin. Begegnung m. d. Kultur- und Technologiekritiker Ivan Illich. 1986 Dissertation an d. TU Berlin. 1986–1990 Unterricht an verschiedenen amerikanischen Universitäten (Frauengeschichte, Wissenschafts- u. Technologiegeschichte), anschließend Tätigkeit am Institut f. Empirische Kulturwissenschaft in Hannover. 1993 Habilitation. Seit 1994 ordentliche Professorin in Hannover, ihr Lehrgebiet umfaßt Kultursoziologie, gesellschafts- und kulturhistorische Frauen- und Geschlechterforschung sowie Medizingeschichte. Sie ist als Körperhistorikerin zugleich auch Pionierin a. d. Gebiet d. Geschichte des Körpers und hat energisch dazu beigetragen, den Körper als wesentlichen Gegenstand d. Geschichtswissenschaft zu etablieren. Veröffentlichungen u. a.: »Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patienten um 1730«. Stuttgart 1987 u. 1991; »Anatomie der Guten Hoffnung. Zur Bildgeschichte des Ungeborenen«. Ffm., 2003. Auszeichnungen: Eileen Basker Memorial Award for Outstanding Research, American Anthropology Society (1993); Award Woman in Science, History of Science Society, USA (1993). Derzeit befaßt sie sich mit Pierre Bourdieus »mitfühlendem Ohr und soziologischem Sachverstand« und mit einem Projekt zum Thema »Alltags-Gen«. Barbara Duden wurde 1942 in Greifswald geboren. Der Vater war Jurist, die Mutter Hausfrau u. Übersetzerin. Sie ist ledig und hat keine Kinder.
Barbara Dudens Haus liegt in einer ruhigen Seitenstraße der Bremer Innenstadt. Es ist eines jener typischen alten Bremer Bürgerhäuser mit umzäuntem Vorgärtchen, Treppenaufgang, Windfang und schmaler, hoher Fassade. Aneinandergereiht dehnen sich diese Häuser nach hinten hin aus, wo jedes noch mal einen mehr oder weniger kleinen Garten hat. Barbaras winziger Garten ist ein liebevoll
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