Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
ja auch Berücksichtigung finden. Derzeit verläßt nur Frau Bolzmann regelmäßig das Haus. Ansonsten führen wir die Damen raus an die frische Luft, sie sitzen viel draußen auf dem Balkon und im Garten. Und jeden Tag planen wir zusammen mit den Damen das Essen, und da hat jeder natürlich seine Lieblingsgerichte, bis auf Irmchen, die sich nicht so viel aus dem Essen macht. Und daneben, aber das ist natürlich das Selbstverständliche für uns, da muß die ganze Pflege laufen, denn sie brauchen ja für jede Verrichtung Hilfe, bzw. sie können es gar nicht mehr. Also, das ist eine ganz körpernahe Pflege, Intimpflege, Prothesen reinigen, anziehen, kämmen, Nagelpflege usw. und natürlich, wenn nötig, Beine wickeln gegen Thrombose oder einen Einlauf, Medikamente verabreichen usw., was eben so alles anfällt. Das alles geht langsam, braucht viel Geduld und Überredungskunst. Bis wir dann auch noch Ordnung und Sauberkeit hergestellt haben in der Wohnung, hatten sechs Hände ganz schön zu tun und waren vollauf beschäftigt.
Nachmittags nach dem Schlafen, nach Kaffee und Kuchen, spielen wir dann oft ›Mensch ärgere dich nicht‹, oder es werden Rätsel geraten, Märchen vorgelesen. Manchmal spiele ich auf der Gitarre und singe, und kaum habe ich angefangen, fallen die Damen sofort in die Lieder ein. Sie können zum Teil mehrere Strophen, das ist ganz erstaunlich. Weil ja sonst das Erinnerungs- und Sprechvermögen stark reduziert oder gestört ist. Am ehesten lockert sich das im Einzelgespräch, also bei hoher Konzentration aufeinander. Und beim Singen! Das Singen löst Blockierungen auf. Ich merke das ja auch an mir selbst. Ich singe im Post-Chor – das ist ein ganz besonderer Chor –, und da wird eben auch deutlich, wie man Routine braucht, üben muß und jedes mal wieder neu anfängt. Und dann ist da das, was die Blockaden abbaut, das ist der Moment, wo man erlebt, wie die eigene Stimme zusammen mit den anderen Stimmen einen Klang erzeugt, den keiner allein erzeugen könnte. Und wenn der dann stimmt, dann freun sich alle. So ist es auch beim Demenzkranken. Beispielsweise singen wir das Lied ›Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, sie fliehen vorbei, wie nächtliche Schatten‹, da sitzt eine Frau, die überhaupt nicht mehr spricht, und wenn ich die anschaue und sage: ›Die Gedanken sind …?‹ und mache eine Pause, dann kann es sein, daß sie sagt: ›… sind frei.‹«
7 Sechs Kreuzbergerinnen
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LEBEN FÜRS SOZIALE
HAUSMEISTERIN
Bea Fünfrocken, selbständige Elektrikerin u. Hausmeisterin in der »Schoko-Fabrik«, Berlin. 1969 Einschulung i. d. Grund- u. Hauptschule Überherrn/Saarland, 1974 Übergang z. Robert-Schumann-Gymnasium, Saarlouis, 1982 Abgang m. d. Allgemeinen Fachhochschulreife. 1982–1996 div. Ausbildungen: zur Hauswirtschaftlerin zur Heilerziehungspflegerin u. z. Elektroinstallateurin. Div. Berufstätigkeiten u. ab 1999 Hausmeisterin i. Frauenzentrum Schokoladenfabrik e. V. Seit 2003 nebenberuflich mit ihrem Kleinstbetrieb »crassa minerva« als Reparaturhandwerkerin tätig. Seit 1995 i. div. politischen Gruppen aktiv, u. a. Friedens- u. Anti- AKW-Bewegung; 1988/89 Mitherausgabe eines autonomen Frauen- u. Lesben-Infos/Ffm; 1988–93 Frauengruppe gegen Gen- u. Reproduktionstechnologie, Mai 1990 antieugenische Infoveranstaltung: »Zur Kontinuität der ›Ausmerze lebensunwerten Lebens‹«. 1990 u. f. Hausbesetzungen i. d. Mainzer Straße, Grünbergerstraße, Dieffenbachstraße. Seit 1994 i. d. anarchofeministischen Frauen- u. Lesbengruppe »Las Loccas« Mitgestaltung d. Bildungsseminare. Seit vielen Jahren zusätzlich Technikkurse f. Frauen. 2003 Mitbegründerin der »Genossinnenschaft Schokofabrik«, das. Aufsichtsrätin. Wohnt seit 2004 i. kollektiven Kreuzberger Gewerbehof »Kerngehäuse«. Bea Fünfrocken wurde 1963 in Ensdorf/Saarland geboren – ihr Vater war Bergmann, die Mutter Hausfrau –, sie ist ledig, kinderlos u. lebt in fester lesbischer Beziehung.
Die Schokofabrik liegt im Berliner Bezirk Kreuzberg, zwischen dem Künstlerhaus Bethanien und dem Heinrichplatz. Vor dem Mauerfall eine heruntergekommene Wohngegend in Grenznähe, bevorzugt von Autonomen und eher Schlechterverdienenden bewohnt, ist hier heute alles saniert und wirkt ein wenig verödet. Das Politische hat sich verflüchtigt oder nach innen zurückgezogen. Farbe und Lebhaftigkeit gehen einzig noch vom türkischen Straßen- und Geschäftsleben aus. Bea Fünfrocken empfängt uns in einem
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