Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
überhaupt nicht mehr, wo ich jetzt war, wo ich da hineingeraten bin. Insofern war das Jurastudium auch sehr gut für meine Orientierung, denn man lernt da ja ›System‹, man bekommt ja das Konstrukt genau erklärt in einer präzisen Sprache, Staatsrecht usw. Aber vorher war’s komisch. Ich hing einen Moment lang wirklich in der Luft!
Das hat sich dann ja bald gegeben, auch mit Hilfe des Freundeskreises natürlich. Und deshalb ist es mir nach wie vor wichtig, daß das Politische und das Private nicht getrennt sind. Bei uns hier verknüpft sich das alles miteinander, auch in der WG. Anders könnte ich, glaub ich, gar nicht leben. Und dieser Zusammenhalt ist auch deshalb notwendig, weil wir uns hier wieder auf einen verstärkten Auftritt der NPD einstellen müssen, denn das bedeutet ja eine Mobilisierung der gesamten Naziszene. In letzter Zeit gibt’s eine Reorganisation der ›Kameradschaften‹ und freien Strukturen. Und es sind ja jetzt bereits die nächsten nachgewachsen, die Fünfzehn-, Sechzehn, Siebzehnjährigen, die halt meinen, sie müssen Nazipöbel spielen. Und es ist eben so, daß die auf Leute von uns richtig losgehen. Die waren es auch, die uns am 1. April angegriffen haben am NPD-Stand, die müssen sich ja bei ihren Leuten erst mal Anerkennung verschaffen, durch ›Heldentaten‹. Also, es sind nicht mehr nur die Leute, mit denen wir es damals zu tun hatten. Es hört einfach nicht auf!«
Einige Zeit nach diesem Gespräch – am Tage des WM-Spieles zwischen Deutschland und Portugal – wurden in der Frankfurter Innenstadt mehrere Linke von einer Gruppe von Rechtsextremen, aus dem Umfeld eines einschlägig bekannten Fußballclubs, mit Ausrufen wie »Zecke verrecke!« attackiert. Die Polizei registrierte fünf Körperverletzungen. In der Nacht überfielen sie dann in betrunkenem Zustand erneut die Linken, diesmal im Hof ihres Hauses, wo ein nachbarschaftliches Grillfest stattfand. Die Bewohner und Freunde mußten unter Flaschenwürfen ins Haus flüchten und mit vereinten Kräften die Tür zuhalten, während die am Eindringen gehinderten Rechten im Hof das Mobiliar zertrümmerten. Es war das Haus von Katja Herrlich.
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ZEICHEN DER ZEIT
TÄTOWIERERIN
»Seine Hände sind mit blauen Flecken bemerkt; um die Finger der linken Hand gehen sie in Ringen herum.« Lichtenberg (1775 in London, nach der Begegnung mit OMOI , dem tätowierten »edlen Wilden« aus der Südsee)
Die Tätowierung, einst Stammeszeichen, dann Kennzeichnung und Hautverzierung der Außenseiter – kohärent, stigmatisierend, bizarr bis ordinär – ist zur Normalität geworden, zu einem alltäglichen Anblick. Als Accessoire beider Geschlechter ist sie so gut wie gesellschaftsfähig. Sie erfüllt offenbar den Wunsch nach Selbstvergewisserung und nach einer über die allgemein kurze Verfallsdauer der Warenwelt hinausreichende Verbindlichkeit. Inzwischen haben fast fünfzig Prozent der Jugendlichen bis zum Alter von 24 Jahren Piercings oder Tätowierungen.
Das Tätowierstudio von Berit Uhlhorn liegt in der Potsdamerstraße. Die »Potse« war bis zur Wende berüchtigter Berliner Straßenstrich und Rotlichtmeile. Heute findet man hier vor allem Im- und Exportgeschäfte, kleine Spielhöllen, Woolworth, türkische Döner- und Gemüseläden, Verlage und Antiquariate. Das Haus Nr. 93 ist sorgfältig restauriert, das Vorderhaus und die beiden Seitenflügel gehören Berits Mann, er ist Architekt. Die Schaufenster des Studios sind von Efeu umrankt und diskret dekoriert mit den Mustern des Angebotes. Über der fliederfarbenen Ladentür steht TATAU OBSCUR . Dahinter befindet sich kein düsterer, zwielichtiger Ort, sondern ein zweistöckiger Raum im 60er-Jahre-Stil, der geradezu erschreckend hell und gediegen ist. Über der kleinen Bar prangt ein Leninbild, hier kann der Kunde bei einem Espresso am Caféhaustisch sitzen und in Tätowiermagazinen blättern. An den Wänden hängen Zeichnungen der Virchowschen Präparatesammlung. Man glaubt sich eher in einer Galerie zu befinden. Aber oben auf der geschwungenen Empore, den Blicken entzogen, da surren die Tätowiermaschinchen, da sausen die Nadeln ins Fleisch, erstehen die Bilder auf der Haut. Und vielleicht wird eine junge Frau, die morgens noch mit einem unversehrten Schulterblatt aufgewacht ist, abends ins Bett gehen mit einer frischen Wunde in Form einer prachtvollen Lilienblüte.
Berit, die sehr artifiziell gestylt ist, sagt sie sei eine leidenschaftliche Gärtnerin. Sie zeigt uns ihren
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