Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Rocker-Klubs – teilweise ist das heute noch so. In Australien z. B. haben Tätowierer immer noch Schwierigkeiten, wenn sie ein Studio eröffnen wollen und nicht bereit sind, Schutzgeld zu zahlen an den örtlichen Rocker-Verein. Auch regional in Europa kommt so was noch vor.
Und ab 1993 fing das dann an, daß junge Tätowierer dem nicht mehr folgen wollten. Die Tätowierer wurden selbstbewußter. Das war genau die Zeit, wo ich auch angefangen habe, 1993. Wir kamen auch aus ganz anderen kulturellen Zusammenhängen. Das waren dann z. B. Grafik-Studenten, Graffiti-Künstler, Comiczeichner. Die mußten ja auch irgendwohin. In Amerika gab’s das schon, Leute, die eine gute Grundausbildung hatten. Überhaupt war Amerika sehr befruchtend. Amerika hat bis in die polynesischen Inseln hinein Kontakte, weil sie dort militärische Stützpunkte haben, und einige Tätowierer brachten Mitte der 80er Jahre die polynesischen Motive mit. Da ging es los mit dieser ›Tribal-Art‹. Es gibt einige bedeutende, große Namen. Leo Zulueta ist der bedeutendste Vertreter dieser Richtung in Amerika. Oder es gibt Don Ed Hardy; der ist in den frühen 80er Jahren nach Japan gereist und brachte von dort den japanischen Stil und diese Ästhetik in die Tätowierszene. Das alles kam dann auch zu uns. Vorher gab’s ja eigentlich nur: Herz, Kreuz, Anker bzw. all das, was sich so zwischen dem Meer und dem Militär abspielte, und natürlich Erotisches. Dazu kamen die Rocker-Insignien, und damit hört die Motivik eigentlich auf.
Und in den 90ern kamen dann eben diese neuen Motiviken, und die haben dem Ganzen einen unheimlichen Schub gegeben. Auch eine neue Größenordnung. Ab da wurden dann auch ganze Partien, ganze Körperteile, ganze Oberarme und Rücken tätowiert. Es ist ja so: Wenn eine Tätowierung gut plaziert, sauber tätowiert und motivisch vollendet ist, dann macht sie den Träger unheimlich stolz und glücklich. Sie ist Teil des Körpers, vervollständigt ihn. Es gibt natürlich ganz viele stümperhafte Tätowierer, leider, aber wenn man das Glück hat, so eine vollendete Tätowierung auf dem Körper zu haben, dann erlebt man eine unheimliche Transformation und Erhebung, eine Sublimierung sozusagen. Was die Motivik selbst betrifft, so sind die Vorlieben für bestimmte Stilrichtungen natürlich ganz verschieden. Leute, die sich für japanische Sachen entscheiden, schätzen diese Tradition und Technik, die aus einer sehr hohen kulturellen Entwicklung stammt, das sind Leute, die klassische Schönheit möchten, Zeitloses. Gut, und dann gibt es diesen polynesischen Einfluß, diese schwarzen Bänder- oder Flächenornamente. Die sind zwar in unserer Kultur bedeutungslos, wirken aber dekorativ und sind nicht so schwer herzustellen.
Diese beiden Motiviken, wie gesagt, haben die Tätowierung ganz nach vorne geschoben. Plötzlich wollten alle Leute kleine Tribals haben. Na ja, und dann gibt es natürlich noch eine Phantasy-Motivik, die ›Gruselecke‹, mit Monstern und Schädeln usw., die kommt noch sehr aus dem Rockergebaren. Es befruchtet sich natürlich auch alles gegenseitig, es gibt Gruselcomics, wo jedes Bild ein Gemetzel ist. Also, der Totenkopf als Sinnbild ist immer noch ein Motiv – den tragen wir ja alle in uns. Einen unheimlichen Schub gab auch der Schweizer Maler H. R. Giger durch seine phantastischen Elemente zum einen, besonders aber durch das, was unter dem Begriff ›Biomechanid‹ bekannt wurde. Das fing an mit Darstellungen von aufgerissener Haut, unter der dann ein Maschinenteil zu sehen war. Es gibt einen amerikanischen Vertreter dieser Richtung, Guy Aitchison, ein sehr guter Tätowierkünstler, der hat aus dieser ›Biomechanid‹ nochmal eine ganz besondere, eigene Ornamentik gemacht. Und dann gibt es einen Schweizer Tätowierer, Valentin Steinmann, der hat daraus ›Biodelice‹ entwickelt. Er ist mehr so in die Renaissance-Ornamentik reingegangen und macht daraus eben auch ganz wunderbare Körperkonzepte. Dem Zauber dieser Motivik kann, sagen wir mal, der Buchhalter genauso erliegen wie der Polizist, der Bauarbeiter, der Gruftie oder der Architekt.
Aber es gibt auch rein dekorative Modeströmungen, beispielsweise den Delphin. Bei uns hieß der Delphin nur ›blaue Banane‹. So zwischen 1993 und 1996 etwa, da wollten ihn die jungen Frauen plötzlich alle außen auf die Fesseln. Etwa fünf Zentimeter groß.
Das war das Mode-Chichi der Esoterikszene. Die vergangenen zwei Jahre wurden wir gequält mit Sternen. Sterne
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