Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
in allen Varianten, hauptsächlich fünfzackige, manchmal mit kleinem Schweif. Davor gab’s Sonnen. Sonnen um den Bauchnabel, auf die Schulterkugel, das Schulterblatt – beliebt bei beiden Geschlechtern. Die Frauen waren leicht in der Überzahl. Es gibt ja diese Koinzidenz der Ereignisse, plötzlich tun alle dasselbe. Keltische Knoten waren auch mal sehr populär. Ebenso diese Tätowierung auf den Steiß, in dieser quasi dreieckigen Form, umgangssprachlich heißt das ›Arschgeweih‹ – ich hasse diesen Ausdruck, er ist diffamierend. Diese Tätowierung kann sehr, sehr gut aussehen, wenn sie perfekt gemacht ist. Das ist übrigens ein reines Frauenzeichen. Generell aber unterscheiden sich Männer und Frauen gar nicht so sehr in ihrer der Wahl der Motivik, sehr jedoch in der Wahl der Plazierung. Das wird intuitiv richtig gemacht, Männer wollen den Schulterbereich betonen, Frauen Hüfte, Taille, Po, Dekolleté. Schulterkugel und Rücken, das wollen beide, sagen wir mal.«
Eine zartgliedrige Katze kommt herein, miaut, betrachtet uns distanziert und geht wieder hinaus. »Sie hat Junge«, sagt Berit. »Heute ist eigentlich alles möglich an Tätowierungen. Und es wird auch alles gemacht. Jeder Tätowierer hat natürlich seine Präferenz und auch sein Talent in einer bestimmten Richtung. Einige sind sehr gut, malerisch, die machen photorealistische Portraits oder malerische Landschaftsszenen, ganz wunderbar. Andere sind graphisch sehr gut in strengen Ornamentformen, kunstvoll verschlungenen Knotenbändern. Oder jemand wie der Franzose Lionel Fahy aus Nantes, ein großartiger Künstler, macht Kritzel-Kinderzeichnungen. Das Publikum kennt sich eigentlich inzwischen sehr gut aus; es gibt Tätowiermagazine, die die einzelnen Künstler vorstellen. Das Publikum hat die Wahl, und die Leute sind wirklich sehr engagiert. Das geht so weit, daß ich Leute habe, die kommen aus Stuttgart, aus Karlsruhe, Hamburg, aus Wien oder auch Südafrika.
In meiner Internet-Präsentation stelle ich ein kleines Spektrum meiner Arbeiten vor, das eine sind florale Sachen, das andere nenne ich mal ›alles, was Augen hat‹. Also Menschen und Tiere, alles, was einen anguckt.« Sie lacht. »Und dann gibt es noch den schwarzen Bereich, wo sowohl ornamentale als auch figürliche Sachen gezeigt werden. Manche Leute wollen explizit Blumen, und das freut mich, weil ich Blumen viel und gerne mache. Also, das sind jetzt nicht unbedingt Sujets, die ich da trenne, diese Auswahl soll nur eine leichtere Orientierung ermöglichen. Jeder Kunde der es wünscht, bekommt meine fachkundige Beratung. Ich bin, glaube ich, dafür bekannt, daß ich viele Stile und Motiviken bedienen kann, daß ich mich darin zu Hause fühle. Ich bin da nicht so festgelegt.
Was die Kunden auch besonders schätzen ist, daß ich die Sachen sehr individuell für sie konzipiere und genau an ihre körperliche Konstitution anpasse. Die Bilder hängen nicht irgendwo, ich dynamisiere sie auf dem Körper und gebe dem Körper neuen Schwung. Es kommt natürlich auch vor, daß jemand eine ganz unpassende Vorstellung von Platzierung oder Motiv hat. Ich sage das dann natürlich. Aber die Leute sind erwachsen und die Herren und Herrinnen ihres freien Willens. Ich kann da nur beraten. Es kam mal eine kleine, blonde, zarte junge Frau und wollte unbedingt den ganzen Arm voll Totenköpfe. haben. Die war zudem schwanger. Ich sagte, guck mal, das geht überhaupt nicht, erklärte ihr die Gründe und konnte sie auch relativ schnell überzeugen. Aber es kommt nicht so oft vor.
Und ich tätowiere natürlich auch keine rechtslastigen Motive. Im Gegenteil ich tätowiere sie über – es ist ja auch ein Teil unserer Arbeit, ›Cover ups‹ anzufertigen. Wir hatten mal Kontakt zu Leuten, die sich um ganz junge Nazis gekümmert haben, die wollten den Jungs raushelfen und neue Tätowierungen geben, damit sie nicht mehr mit diesen SS -Runen rumrennen. Daraus kann man ja alles Mögliche machen, da kann ich auch einen Löwen drübersetzen, und nichts mehr ist zu sehen. Aber eigentlich ist das Bewußtsein der Leute, die kommen, schon ziemlich geschult an den Bildern.
Wir dürfen ja nicht vergessen, seit ich tätowiere sind viele Jahre ins Land gegangen. In dieser Zeit hat sich unsere Gesellschaft total umgebaut. Wir sind jetzt eine Gesellschaft, die ist tätowiert. Die jungen Leute zwischen 18 und 35 sind tätowiert. So gut wie alle! Mit Ausnahme vielleicht von Internatsschülern aus Snobiety-Kreisen in der
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