Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
antifaschistischen Widerstandskampfes; es gab auch Spielfilme, Bücher, aber es war halt ›Unterricht‹ und eher langweilig. Über die eigentlichen Fragen: Wohin sind die verschwunden nach dem Krieg, die ganzen Nazis, und gibt es bei uns in der DDR wirklich keine Nazis mehr?, darüber wurden eigentlich nicht viele Worte verloren. Hier bei uns ist der Sozialismus, hier hat man sich gegen die Nazis gewehrt. Das war einfach eine Grundüberzeugung. Man hat uns auch von den NKWD-Lagern nichts gesagt. Ich bin ja aus der letzten Generation, die diesen Unterricht gehabt hat, sozusagen. 1989 bin ich grade in die zehnte Klasse gekommen, und danach wurde alles umgeschmissen. Aber prägend war für mich dann, wie ich zum ersten Mal so richtig was mitbekommen habe von diesem Neonazischeiß, das war 1991 Hoyerswerda. Und dann diese Pogromnacht in Rostock, wo eine Horde von Nazis unter dem Jubel der gaffenden Menge mitten im Wohngebiet ein Ausländerwohnheim angezündet hat und jeder wußte, da waren Familien und Kinder drin! Ich habe einfach nicht verstanden, wie man so sein kann. Diese Lynchstimmung war unbeschreiblich und hat sich mir richtiggehend eingeprägt.
Damals war ich grade zu Hause, als das im Fernsehen kam. Ich bin aus einem relativ kleinen Ort, Vetschau. Wir haben ein Kraftwerk, ein Braunkohlekraftwerk, und immer schon gab es Kontakte mit anderen Nationalitäten. Da wohnten Angolaner, Mozambiquaner und Kubaner. Mit denen haben wir Fußball gespielt. Mein Vater hat im Werk gearbeitet und hatte praktisch für zwei Kubaner die Patenschaft übernommen. Also, die waren am Wochenende bei uns, und wir haben eben mit Händen und Füßen geredet. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, daß ich irgendwie ›besser‹ sein könnte als die. Also, in Vetschau hatte man Kontakt mit Ausländern zu DDR-Zeiten oder war zumindest an ihren Anblick gewöhnt. Nachdem dann diese Bilder und Berichte tagelang im Fernsehen waren von Rostock, da habe ich mich wirklich gewundert, wie ruhig das in unserem Ort blieb. Man hat nicht bemerkt, daß das irgendwas hervorgerufen hätte an Empörung. Jeder hat wie immer seine Arbeit gemacht, abends gings in den Garten und dann ins Bett. Da war Schweigen. Und wir hatten auch ein Wohnheim mit Asylbewerbern, die sie kurzfristig einquartiert hatten. Und da sind dann nächtens auch vereinzelte Trupps von Männern grölend vorbeigezogen, es gab Nächte, wo die Polizei schützend davorstand. Es war mir vollkommen klar, das ist keine harmlose, vorübergehende Angelegenheit mit den Nazis, das wird sich ausbreiten, und das ist ja nicht hinnehmbar! Als ich dann hierherkam nach Frankfurt/Oder, da habe ich mir ja gleich meine Freunde gesucht, und ich wußte ganz genau, welche Freunde ich haben wollte: Freunde, die was tun gegen die Neonazis. Und so ist das alles eigentlich gekommen.«
Und nun möchten wir noch ein paar biographische Details erzählt bekommen: »Ja, also, das war alles ganz normal, Krippe, Kindergarten, Einschulung. Mein Vater war Starkstromelektriker im Kraftwerk, meine Mutter ist Lehrerin gewesen, erste bis vierte Klasse Grundschule. Ich habe noch einen Bruder, der ist sechs Jahre älter und arbeitet heute als Kfz-Mechaniker. Das Geld war natürlich immer knapp bei uns, aber irgendwie haben es die Eltern jedes Jahr hingekriegt, daß wir in Urlaub gefahren sind, privat, wir als Familie, an die Ostsee oder in den Harz. Mit den Ferienlagern ging das bei mir erst los, als ich so in der sechsten Klasse war. Zweimal in der ČSSR, sonst nur in der DDR. Das war schön, vom ganzen Stil her. Wir waren ja auch in Holzbaracken, sehr lustig. Bei den Tschechen, da war’s allerdings so ein bißchen autoritärer organisiert. Das war mit Morgenappell und Briefe abholen vorne beim Appell. Und wenn mal nachts die Bude wackelte, da mußte man dann schon seine zwei Stunden über den Sportplatz rennen hinterher und Liegestütze machen. In DDR-Ferienlagern hab’ ich das nicht erlebt. In meinem Alter haben sie uns relativ frei gelassen. So mit den anderen durch die Wälder streifen, das fand ich schön. Und dann mußte ich allmählich schon darüber nachdenken, was ich werden wollte. Lehrerin wollte ich auf keinen Fall werden. Kfz-Mechaniker wäre für eine Frau ein Unding gewesen in der DDR, am Fließband wollte ich auch nicht stehen, und das Praktikum im Kraftwerk hat zwar Spaß gemacht, aber auf Dauer wollte ich da auch nicht arbeiten. Also war klar, daß ich die EOS mache. Und dann kam die Wende, und ich wußte
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