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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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kleinen Garten im Hinterhof, eine stille Oase, abseits der dröhnenden Straße, umgeben von gelben Backsteinmauern und freistehenden viereckigen Backsteinsäulen in gleicher Art und Farbe. Es wirkt fast klösterlich-südländisch.
    Dann steigen wir hinauf in den fünften Stock und werden ins Arbeitszimmer gebeten in dem Schreibtisch, Laptop und die Kunstbände in den Regalen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Der hohe Raum erinnert etwas an jene Wunderkammern voller »Raritäten« aus »der Zeit des Staunens«, denen die Aufklärung den Garaus gemacht hat. Berits Wunderkammer ist angefüllt mit den Zeugnissen ihrer Sammelleidenschaft, mit ausgestopften Tieren, Präparaten in Spiritus, Knochen, Tierschädeln, der Moulage eines Frauengesichtes mit Lippenkrebs. Unsere Gastgeberin bringt Tee und selbstgemachten Kräuterquark zu den Croissants. Als sie uns einschenkt, rutscht der Ärmel ihrer chinesischen Seidenjacke etwas nach oben und gibt den Blick frei auf ihren mit Blütenmotiven tätowierten Arm. Wir, gänzlich untätowiert, bitten sie, uns die Faszination für Tätowierungen zu erklären.
    Sie trinkt einen Schluck Tee und sagt: »Tätowierungen sind die ersten aller Künste. Noch bevor die Menschen sich feste Behausungen gebaut haben, haben sie sich tätowiert, haben sie sich geritzt. Fast alle Funde mumifizierter Menschen-Moorleichen oder Eisleichen, haben Tätowierungen. Diese Tätowierungen aus der Frühzeit sind eng mit Schamanismus und auch mit Heilergebräuchen verbunden. Man schuf eine Art Gegenzauber, der sich auf dem Körper manifestiert und auch für andere sichtbar ist. Deshalb sind die Motive auch sehr zeichenhaft, haben Signetcharakter. Sie sollen verständlich sein. Vielleicht stellen Tätowierungen auch zugleich eine Frühform der Akupunktur dar, vieles spricht dafür.
    Also das Tun und Forschen, das fiel da wahrscheinlich zusammen. Mein Mann hat Rheuma, und eines Tages sagte Herbert Hoffmann (ein Tätowierer aus Hamburg, er gründete die inzwischen älteste ›Tätowierstube‹ Deutschlands. Anm. G. G.), er wüßte ein Mittel gegen Rheuma: Ganzkörpertätowierung! Er ist über 90, glaube ich, und sagte, in seiner langen Berufszeit wäre ihm kein einziger ganzkörpertätowierter Mensch begegnet, der Rheuma gehabt hätte. Und er hat sicher sehr viele gesehen und tätowiert. Eine Tätowierung ist ja quasi eine Presslufthammer-Akupunktur.« Sie lacht. »Die Einstiche erfolgen mit ungeheurer Geschwindigkeit, deshalb tut es ja auch so weh. Eine einzelne Akupunkturnadel schmerzt nicht, aber diese ›Preßlufthammer-Akupunktur‹ aktiviert natürlich das Nervengeflecht – das ist schon ordentlich!
    Es ist auf jeden Fall so, daß die Menschen sich immer tätowiert haben, und dieses historische Fenster, in dem sie es nicht getan haben, ist im Vergleich zu dem Rest der Zeit extrem klein. Und es gab natürlich auch über sehr lange Zeit die Praxis der Kennzeichneichnung von Sklaven und Gefangenen. Das ging bei uns bis 1875 oder so, in Rußland bestimmt bis 1900, daß Gefangene rigoros entweder durch Brandmarkung, durch Verstümmelung oder durch Tätowierung markiert wurden. Danach wurde das nicht mehr gemacht – die Nazizeit war eigentlich noch ganz homogen in der alten Zeit drin.
    Leute, die sich freiwillig tätowieren ließen, waren in der Regel Außenseiter, waren Seeleute, Zuhälter, Gefängnisinsassen. Das alles ist der Grund für das schlechte Image, das Tätowierungen vor nicht allzu langer Zeit noch hatten. Natürlich haben sich viele Leute auch heimlich tätowieren lassen, bis hinauf zum Adel, besonders in der Zeit, als die ersten Tätowierten aus der Südsee nach Europa kamen. Aber eigentlich war das Tätowieren immer verboten, Jahrhunderte lang, teils per Gesetz und immer auch moralisch natürlich. Dieses Verbot endete bei uns erst allmählich. In den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Damals waren es die Motorrad-Rocker, die anfingen, sich zu tätowieren. In den 60er Jahren gab’s dann auch die ersten Nasenstecker, die man aus Indien mitgebrachte. Und in den 70ern trug man in der Punkbewegung die Sicherheitsnadel in der Backe – also es war bereits so eine Art Piercing. Das war diese Zeit, in der sich sehr viel verändert hat, ich weiß auch noch, wie diese Zeit roch …« »Nach Patschuli!« rufen wir. Sie lächelt und fährt fort: »Aber was das Tätowieren betrifft, so war das immer noch ausgegrenzt. Bis in die 90er Jahre war das Tätowierbusiness angedockt an die

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