Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
der Kombination. Aber, wie gesagt, die Mediziner sind nicht scharf auf Ethik, Geschichte spricht sie schon mehr an. Bei Ethik sagen sie, das ist so ein ›Laberfach‹, was soll’s, bis ich entscheiden muß, hab ich’s vergessen. Und man muß berücksichtigen, sie haben es nicht leicht heute, es gilt nur noch ein Schema: Wann habe ich welches Testat. Die haben gar keine Zeit, sich mal Gedanken zu machen. Und außerdem macht dieses Fach die Sache noch unkalkulierbarer. Die wollen ja grade Struktur in ihre Gedanken bringen, die wollen nicht, daß einer sagt, überlegen sie doch mal, ob das überhaupt sinnvoll ist, was sie da tun!!«
Wir fragen nach dem sogenannten Hippokratischen Eid, von dem alle, besonders die Patienten, glauben, daß die Ärzte ihn geschworen haben. »Ja, das habe ich jetzt auch wieder gelesen. Der wird nicht geleistet. Nein. Der hat absolut nichts zu tun mit unserer Realität, nicht nur wegen der Leistungsfähigkeit. Die Leute würden sich wundern, das ist ein knallhartes System für Privatpatienten quasi; entweder sie zahlen, oder sie kriegen es nicht, fertig! Wenn er keine Kohle sieht, geht der Arzt weg, dann hat er nichts mit der Krankheit zu tun. Dasselbe System sagt natürlich dann auch, wenn er keinen Erfolg hat, muß der Patient nicht zahlen. Aber es sagt nicht, ich werde helfen, und zwar jedem, der mich braucht. Es steht drin z. B.: Ich werde keine Geheimnisse verraten, das ist so ein hippokratisches Prinzip, die Schweigepflicht. Oder: Ich werde, auch nicht auf Bitten, ein tödliches Gift verabreichen. Dasselbe gilt für die Verabreichung von Abtreibungsmitteln usw. Also der Eid wird tatsächlich nicht geschworen. Er wurde noch nie geschworen. Außer vielleicht von einer kleinen Ärztegilde in der Antike. Man hat in der Neuzeit, als man sich wieder auf die antiken Schriften besonnen hat, versucht, ihn an einzelnen Universitäten zu etablieren, für die Absolventen quasi, im Rahmen einer Feierstunde. Das hat sich aber nicht durchgesetzt. Vor allem deswegen, weil er eben tatsächlich heidnisch ist. Dieses humane Element der Medizin, dieser Samariter-Aspekt, der war ja noch nicht erfunden in der Antike!
Und das ist dann, wie schon gesagt, der Grund, weshalb junge Leute Medizin studieren in der Regel. Sie wollen helfen, möglichst schnell, sie stellen sich dankbare Patienten vor. Aber die Patienten sind nicht dankbar, sie sind unzufrieden, und dann ist man enttäuscht. Dieser Anspruch, mit dem Anfänger kommen, von Ganzheitlichkeit usw., das sind alles romantische Kinderträume. Das merkt man bereits im Studium. Und dann in der Härte des Alltags, denn was man stattdessen macht, ist enorm viel Bürokratie. Und dafür hat man definitiv nicht Medizin studiert. Die Enttäuschung ist absolut enorm. Die Frustration des Alltags, so wie er heute organisiert ist in der Medizin, wird mit jeder noch so großen idealistischen Grundeinstellung fertig. Deshalb kommt auch nur ein Drittel aller Studenten im Arztberuf an. Viele gehen in die Industrie oder auch ins Ausland, wo nicht nur Verdienst und Arbeitszeiten besser sind, sondern auch die Konzentration auf ärztliche Tätigkeiten möglich ist, weil ausgebildete Stationssekretärinnen die bürokratische Arbeit machen, die hier von den Ärzten bewältigt werden muß. Und ein anderer Grund, weshalb so wenige im Arztberuf ankommen, ist der hohe Frauenanteil. Wir haben über 50 Prozent Frauenanteil in der Medizin. Das ist ein hohes Risiko. Deshalb, weil Frauen diese Motivation des Helfens und der Ganzheitlichkeit, des Gesprächs mit dem Patienten usw. noch viel stärker haben als die Männer. Und wenn sie das nicht vorfinden, wenn dafür gar kein Platz mehr ist, dann steigen sie einfach aus und spielen nicht mehr mit. Lieber gehen sie dann irgendwelchen schlechten Teilzeitjobs nach, machen das nur als Job, oder sie machen erst mal Familienpause. Die Frauen wählen sozusagen nicht den Weg in den Zynismus, den die Männer wählen müssen. Zumindest meinen die, daß sie diesen Beruf so ausüben müssen, aus welchem Grund auch immer. Und die Frauen meinen eben nicht, daß sie ihn so ausüben müssen. Also ich glaube nicht, daß man sich das dauerhaft leisten kann, zwei Drittel umsonst auszubilden.
Aber dazu möchte natürlich niemand was hören. Und es ist eben die Imagination von ganz unten bis ganz oben: Die Medizin, so wie sie ist, ist fertig. Und die muß man eben nur noch vermitteln, an die Studenten und zukünftigen Mediziner. Aber wir sind jetzt
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