Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Erkenntnisform. Anatomen gingen auch zu den Scharfrichtern und baten, die Todesstrafe so auszuführen, daß der Leichnam noch brauchbar war. Die letztendliche Zergliederung und Zerstörung – zuvor Henkershandwerk – übernahmen nun sie.
Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert wurden fast nur Hingerichtete, Männer und Frauen, seziert und präpariert. Das ›Zerstücken‹ auf dem Sektionstisch wurde in England ausdrücklich als Zusatzstrafe verhängt und durchgeführt im Anatomischen Theater. (Amphitheaterartiger Schausaal mit Sektionstisch im Zentrum als Bühne, auf der die Sektion ›aufgeführt‹ wurde vor geladenem Publikum. Es gab eine Kleider- und Sitzordnung in Italien. In Frankreich auch Musik, Anm. G. G.) Es hatten nur die höheren Schichten Zutritt, Fürsten, Adlige, die Geistlichkeit – deshalb ist auch nicht verwunderlich, daß heute die Kirche für Organtransplantationen ist, sie ist diesen Säkularisierungsprozeß, was den Körper betrifft, immer mitgegangen –, sie alle wurden in den ersten Reihen plaziert. Der Anatom hatte aber zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert noch keinen Kontakt zur Leiche; er saß auf seinem Lehrstuhl, gab Anweisungen an die Chirurgen und erläuterte das Geschehen. Die Chirurgie zählte zu den sogenannten ›unehrlichen‹ Berufen, wie Scharfrichter, Abdecker usw. Unehrlich deshalb, weil sie mit Blutvergießen und Tod zu tun hatten.
Das 16. Jahrhundert wird immer als dasjenige bezeichnet, in dem sich die moderne Medizin im Anatomischen Theater begründet hat. Eine entscheidende Zäsur war, daß der Anatom Vesal vom Katheder herunterstieg und als erster eigenhändig Leichen sezierte. Den krönenden Abschluß bildete die Sektion einer trächtigen Sau bei lebendigem Leibe. Diese Vivisektionen waren von bisher nicht gekannter Grausamkeit. Hier entsteht der Zusammenhang von Tod, Geburt, Sterben und Töten. Das alles wird im Anatomische Theater in Szene gesetzt, visualisiert. Hier entsteht ein neues Weltbild, kann man sagen; die Anatomie konstituiert einen zerlegbaren Körper, der aufgespalten ist in einzelne Organe, abgeschnitten von der Umwelt und vom Kosmos, mit autonomen Organen – was dann ganz entscheidend auch für die Transplantationsmedizin wird. Ich sage immer, das ist eine chirurgisch-anatomische Anthropologie, die nun entsteht. Besonders im 17. Jahrhundert, was ja dasjenige ist, in dem am meisten hingerichtet wurde – also in der Frühmoderne und nicht im Mittelalter, wie häufig angenommen wird. Die Gesellschaft war einer extremen Chaotisierung ausgeliefert.«
Frau Bergmann streichelt etwas hektisch eine sehr alte und dünne Siamkatze und hebt die Miauende zu sich auf den Schoß. »Im 17. Jahrhundert hatte ja die ›kleine Eiszeit‹ ihren Höhepunkt. Durch Missernten und Hunger entsteht dann auch eine Anfälligkeit für die Pest. Fast jede Pest zog eine Hexenverfolgung oder ein Judenpogrom nach sich. Es war das Jahrhundert des Hexenwahns, der Hinrichtungsexzesse und der Kriegsdichte, mit einem enormen Anstieg der Gewalt. Und es ist das 17. Jahrhundert, in dem sich die modernen Naturwissenschaften am meisten konstituieren, die Akademien für Wissenschaft entstehen jetzt. Die Hinrichtungsexzesse schaffen quasi eine materiale Voraussetzung für die empirische Erforschung des Körpers. Und seit dem 18. Jahrhundert wurde der für die Anatomie verfügbare Personenkreis dann erweitert durch behördliche Anordnung, und zwar auf sozial deklassierte Gruppen. Also auf alle Armen, die kein Geld für eine Beerdigung hatten, die in Hospitälern, Gefängnissen, Zucht- und Waisenhäusern, Findel- und Invalidenhäusern gestorben sind, auch Selbstmörder und ledige Schwangere usw. Und im Rahmen einer sich rasant entwickelnden experimentellen Medizin wurde dieser Personenkreis dann recht bald auch für den Menschenversuch in Reihenuntersuchungen benutzt, in einem vorher nicht gekannten Ausmaß.Ohne die Verdinglichung der Armen und der Ausgegrenzten wäre die Entwicklung der modernen Medizin des 19. und 20. Jahrhunderts undenkbar gewesen.« Die Katze will wieder auf den Boden, sie verlangt klagend nach Futter und bekommt ein Schälchen gefüllt.
»Und besonders die Chirurgie hat profitiert und erlebte ihren Aufstieg. Im 19. Jahrhundert ist sie die Methode par excellence. Und man beginnt nun mit Transplantationen bei Tieren und Menschen. Man ›verpflanzt‹ Schilddrüsen, Ovarien, Hoden, Knochen, Hirngewebe und scheitert natürlich. Die Chirurgie, die einst als
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