Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
quasi die Anarchisten, die sagen, die Medizin ›entsteht‹ erst!«
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LETZTE ZUCKUNGEN
KULTURWISSENSCHAFTLERIN
Anna Bergmann, Prof. Dr. phil., Privatdozentin a. d. Kulturwissenschaftlichen Fakultät d. Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder. WS 2005/2006 Lehrbeauftragte a. Inst. f. Volkskunde u. Kulturanthropologie d. Karl-Franzens-Universität Graz; Gastprof. a. d. Fakultät f. Kulturwissenschaften d. Univ. Klagenfurt; Maria-Goeppert-Mayer-Gastprofessur a. d. Abt. f. Geschichte d. Naturwissenschaften m. Schwerpunkt Pharmaziegeschichte, TU Braunschweig. 1960 Einschulung i. d. kath. Volksschule Lüneburg, 1964 Herder-Gymn., Lüneburg, 1973 Abitur. 1974–1980 Studium d. Politik- u. Sozialwissenschaften a. Otto-Suhr-Institut d. FU-Berlin, 1980 Diplom. 1980–1993 div. Tätigkeiten als freie Mitarbeiterin, u. a. beim SFB; wissenschaftl. Planung d. Forschungsprojektes »Soziale Rationalisierung« a. Hamburger Inst. f. Sozialforschung; wiss. Beratung b. d. Ausstellungen »Der Wert d. Menschen«, Berl., u. »Unter anderen Umständen«, Hygiene Museum Dresden. 1988 Promotion a. Fachb. Politische Wissenschaften, Institut d. Geschichte d. Medizin a. d. FU-Berlin, über d. Geschichte d. Rassehygiene u. Eugenik im Deutschen Kaiserreich. Seit 2002 Dozentin f. medizinische Ethik bei VIA e. V. (Fortbildungsseminare f. Krankenpflegepersonal u. Sozialarbeiter), 2003 Habilitation a. d. Kulturwissenschaftl. Fakultät d. Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder. (Thema: »Klimakatastrophen, Pest und Massensterben. Staatliche Todesabwehr und todesabhängige Medizin zwischen Rationalität und Magie«), Lehrbefugnis f. Neuere Geschichte u. Kulturgeschichte. Gastprofessuren u. Lehraufträge an Universitäten i. Deutschland u. Österreich. Forschungsschwerpunkte u. a.: Kulturgeschichte d. Anatomie, d. medizinischen Menschenexperiments u. d. Transplantationsmedizin, d. Wahrnehmungsgeschichte d. Todes. Veröffentlichungen u. a.: »Herzloser Tod: Das Dilemma der Organspende«, zusammen m. Ulrike Baureithel, Stuttg., 1999 u. 2001; »Der entseelte Patient. Die moderne Medizin und der Tod« Berl., 2004. Anna Bergmann wurde 1953 i. Michelbach/Unterfranken geboren, der Vater war Lehrer, die Mutter Hausfrau. Sie ist ledig und hat keine Kinder.
Anna Bergmann wohnt in Berlin, zwischen Schöneberg und Kreuzberg, Gartenhaus, fünfter Stock, ohne Lift. Die ausgebaute Dachwohnung teilt sie mit ihren Katzen, einem Jongleur, der ihr Untermieter ist, und einer deckenhohen Blattpflanze. Das Arbeitszimmer liegt zum Norden hin, vom Schreibtisch aus kann der Blick über die Dächer schweifen, Richtung Tiergarten und Mitte. Zwischen den Bücherregalen hängen Kinderzeichnungen vom Großvater, ein Jugendfoto der Mutter, ein Foto von Beckett und eins von Rubinstein neben dem offenen Klavier. Die hölzernen Teile eines Sessels sind von den Krallen der Katzen kraftvoll bearbeitet, sie haben die Erlaubnis dazu. Anna Bergmann führt uns in die lichtdurchflutete Wohnküche, wo wir neben der Blattpflanze auf Biedermeierstühlen Platz nehmen und gebannt zusehen, wie eine schon ältere schwarze Katze kopfüber die schmale steile Holzleiter vom Schlafzimmer herunterbalanziert und Platz nimmt. Frau Bergmann möchte, bevor wir über die moderne Transplantationsmedizin sprechen, kurz auf die Geschichte eingehen. Naturgeschichte ist Kulturgeschichte.
»Unser Wissen vom Körper, unser Körpermodell, verdankt sich ja der Anatomie. Im 14. Jahrhundert wurden zum ersten Mal infolge der Pest Leichen seziert. Man wollte in den Körper schauen, um die Todesursache zu eruieren. Systematischer betrieb man das Leichensezieren erst im 16. Jahrhundert. Die Leichensektion war eine starke Tabuüberschreitung – und ist es immer noch. Das Tabu war darin begründet, daß der Tote nicht als endgültig und absolut tot galt, sondern als einer der weiterlebt, der mächtig ist, der Rache nehmen kann. Die Leichensektionen – die von der Kirche legitimiert waren – wurden fast ausschließlich an Hingerichteten vorgenommen. Die Hinrichtungsrituale waren ja so organisiert, daß eine gründliche Zerstörung und Vernichtung praktiziert wurde, um den Toten jede Möglichkeit zur Rache zu nehmen. Nur weil Hingerichtete diesem Ausschluß unterworfen und zerstört wurden, kam man überhaupt auf die Idee, diese Gruppe zur Leichensektion zu verwenden. Auf der Basis des magischen Denkens und aus der Abhängigkeit von der Hinrichtung entsteht dann die Anatomie als
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