Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
Vom Netzwerk:
›unehrlich‹ galt, wurde zur Königin der modernen Medizin, und der Chirurg hatte über lange Zeit den allerhöchsten Status. Seine Methode wird dann auch zur Hauptmethode unserer modernen Medizin. Wie geheilt wird, wie erkannt wird, bis hin zur Gentechnologie, alles das basiert ja auf dem Zergliedern. Das sind ja alles Zergliederungen. Und so zieht sich ein roter Faden durch die Geschichte der modernen Medizin, von der Leichenzergliederung im Anatomischen Theater über die Verwertung der Hingerichteten, die Experimente an Menschen im 18. und 19. Jahrhundert, die Menschenversuche der Mediziner im NS, bis hin zur modernen Organtransplantationsmedizin, zur Verdinglichung des Toten zum Gegenstand der Forschung und der Verdinglichung der ausgegrenzten Todgeweihten zum Menschenmaterial.
    Und hier an dieser Stelle mache ich jetzt einen Übergang zur Transplantationsmedizin, die ja per Definition einen Sterbenden für tot erklärt, weil so auch die mentale Voraussetzung geschaffen wird, um Hand an ihn zu legen. Bis Ende der 60er Jahre galt, daß der Tod mit dem Stillstand von Herz und Kreislauf eintritt. Der Arzt hatte diesen Tod zu bescheinigen anhand der klassischen untrüglichen Todeszeichen wie Fehlen des Herzschlages, Atemstillstand, Blässe, Leichenstarre, Leichenflecken. Im Zuge der ersten Herztransplantation, die 1967 der südafrikanische Chirurg Barnard in Kapstadt durchgeführt hat – was eine ganze Welle von Herztransplantationen in aller Welt nach sich zog –, kam es 1968 zu einer ersten offiziellen Hirntoddefinition, zu den sogenannten Harvard-Kriterien. Die Harvard-Kommission zählte in ihrer Definition das zentrale Nervensystem morphologisch zum Gehirn, man faßte Gehirn und Rückenmark noch als eine Einheit auf, also Gehirntod lag dann vor, wenn kein einziger Reflex mehr nachweisbar war.
    Noch im selben Jahr ist diese Definition aufgegeben worden. Stattdessen setzte sich Ende der 60er Jahre die bis heute gültige Definition einer irreversiblen Schädigung aller Hirnfunktionen durch. Siebzehn mögliche Bewegungen beim Mann und vierzehn bei der Frau gelten dabei mit dem Status einer Leiche als vereinbar. Darauf komme ich später noch zurück. Auch die christlichen Kirchen haben sich dieser Todesdefinition angeschlossen und preisen die Organspende als einen ›Akt der Nächstenliebe‹. Nach der Definition der Medizin handelt es sich beim Hirntoten um eine tote Person mit einem lebendigen Körper. Die Medizin überschreitet ihre Kompetenzen, die Naturwissenschaft verfügt gar nicht über die Möglichkeit, eine Person zu definieren. Der Neurologe und Neurochirurg Zieger sagt, daß das Hirntodkonzept sich auf ein Menschenbild beruft, das in der modernen Hirnforschung mittlerweile als widerlegt gilt. Und der Neurochirurg und Anästhesist Klein erinnert daran, daß es inzwischen vier Todesdefinitionen gibt, den Herz-Kreislauf-Tod, den Ganzhirntod, den Hirnstamm-Tod in England, und den Tod durch Ausfall des Großhirns. Aber der Gesetzgeber hat alle Wege geebnet. Das Transplantationsgesetz wurde 1997 im Bundestag beschlossen, es erlaubt die Organentnahme, wenn der Spender einen Organspenderausweis hat, oder die Angehörigen zustimmen. Der Organspender muß tot sein. Die Definition dessen, was »tot« ist, überließ der Gesetzgeber der Medizin. Seitdem gilt die juristische Festschreibung des Hirntoten als Leichnam.
    Diese Todesfeststellung ist überaus kompliziert im Gegensatz zur Herztodfeststellung. Das Gesetz schreibt z. B. zwei Hirntoddiagnostiker vor, die unabhängig voneinander zu diagnostizieren haben, ob ein irreversibler Gehirnausfall vorliegt oder nur ein Koma. Und was ich ethisch auch sehr problematisch finde, ist die diagnostische Methode. Der Körper des Komapatienten wird sehr aggressiv herausgefordert bei der Suche nach Reaktionen, also nach ›Todeszeichen‹. Es wird eine lange Nadel in die Nasenwand gestochen, in den Trigeminusnerv, es wird Eiswasser in die Ohren gespült, es wird ein Tubus im Rachen hin und her geschoben. Und der Komapatient wird zweimal dieser Untersuchung unterworfen. Insgesamt acht Unterschriften sind im Hirntodprotokoll notwendig. Mit der letzten Unterschrift tritt der Tod ein: als bürokratischer Akt. Anschließend wird der Totenschein ausgefüllt, als Todeszeitpunkt wird die Uhrzeit der Unterzeichnung des Schriftaktes angegeben.
    Nun kann die Organentnahme stattfinden. Die Explantation hat ja eine ganz eigene Operationslogik; es muß z. B. ein Anästhesist

Weitere Kostenlose Bücher