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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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es etwas ist, was mit ihrem Umfeld zu tun hat, mit ihrer Ehe. Daß das eine Verarbeitungsform war. Sie hat es immer als ihr ›Gewächshaus‹ bezeichnet. Und gleichzeitig wurde sie als medizinisches Wunder angesehen von den Ärzten. Damals habe ich einerseits erlebt, daß die Medizin meine Mutter retten kann, immer wieder neu, andererseits war aber unübersehbar, daß es auch ihre Leistung war, zu überleben.
    Meine Mutter ist in diesem Jahr gestorben, im April, an einem Schlaganfall! Mit Hilfe meiner Schwester habe ich meine Mutter gegen den Willen der Ärzte und unter dramatischen Umständen aus der Intensivstation ›befreit‹, muß man fast sagen. Wir haben sie nach Hause geholt, und es war ein unbeschreibliches Problem, einen Arzt zu finden, der ihr etwas Wirksames gegen die furchtbaren Schmerzen im Kopf verschrieb, denn im Krankenhaus hatte man sich kategorisch geweigert, ihr ein adäquates Mittel zugeben. Glücklicherweise unterstützte uns der Hausarzt, und unsere Mutter konnte ohne Panik zu Hause sterben. Also, ich habe die Kaltblütigkeit der Medizin hier wieder erlebt. Und ich habe sie auch in meinem Leben schon am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Das hat mich wahrscheinlich doch sehr stark für Medizingeschichte motiviert.
    Eigentlich habe ich ja Politikwissenschaft studiert, aber dann hat mich eben dieser Zusammenhang zwischen Gewalt und Medizin viel mehr interessiert. Lieber wäre ich ja Pianistin geworden«, sie lacht, »dann hätte ich ein schöneres Leben. Denn Sie können sich ja denken, mit diesem Thema steht man sehr alleine da. Ich habe keine Scientific community, in die ich eingebettet bin, und ich habe dementsprechend auch keine Karriere.«

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    VOM ZITTERN DER ALTEN
    KRISENTELEFON
    Gabriele Tammen-Parr, Gründerin u. Leiterin d. Krisentelefon, Beratungs- u. Beschwerdestelle »Pflege in Not« in Berlin. 1959 Einschulung in Rauschenberg/Hessen, 1963 Übergang a. d. Gesamtschule. Nach Realschulabschluß Studium d. Sozialpädagogik i. Darmstadt u. Berlin. Abschluß 1973. Nach div. Berufspraktika u. d. Geburt einer Tochter Beratungsarbeit f. pflegende Angehörige sowie Aufbau mehrerer Beratungs- und Familienzentren. Qualifizierung: Ehe- und Familienberaterin, Mediatorin. 1998 Idee und Gründung von »Pflege in Not«. Mitautorin d. Broschüre »Gewalt in der Pflege älterer Menschen« (Bln. 2002). Gabriele Parr wurde 1953 in Bracht b. Marburg a. d. Lahn als Tochter einer Schneiderin u. eines Verwaltungsangestellten geboren. Sie heiratete 1997 den Galeristen Tammen, v. d. Galerie a. Chamissoplatz, u. organisiert seit Juni 1999 die Arbeit v. Krisentelefon, Beratungs- u. Beschwerdestelle.
    Etwa eineinhalb Millionen alte Menschen werden als »Pflegefälle« versorgt, 75 Prozent davon zu Hause, 25 Prozent in Heimen. Von den zu Hause Lebenden werden jährlich 600000 Opfer von Gewalt. (Die Dunkelziffer wird wohl höher liegen, ebenso im Heimbereich.) Von den im Heim gepflegten Alten sind 85 Prozent unterernährt, 30 Prozent leiden an einem Mangel an Flüssigkeitszufuhr, 25 Prozent haben beginnende oder entwickelte Dekubitusgeschwüre, davon fünf Prozent mit hohem Schweregrad. Mehr als 30 Prozent der zu Pflegenden sind dement oder psychisch krank. Magensonden werden gelegt, um die Hilfestellung beim Essen einzusparen, Dauer-Blasenkatheter werden gelegt und Windelung wird aufgenötigt, um das Blasentraining und die Begleitung zur Toilette einzusparen. 400000 freiheitsentziehende Maßnahmen wie Festbinden, doppelte Bettgitter, Verabreichung von Psychopharmaka (oft ohne richterliche Genehmigung) finden in den Heimen statt (so der Arbeitskreis gegen Menschenrechtsverletzungen). Die an den Alten begangenen Straftatbestände wie Nötigung, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Mißhandlung Schutzbefohlener usf. werden in den seltensten Fällen geahndet. Im Durchschnitt werden 28 schwerst Pflegebedürftige von zwei bis drei Pflegekräften versorgt. Etwa 10000 Menschen sterben bundesweit jährlich an mangelhafter Versorgung und Pflege.
    Die Beratungs- und Beschwerdestelle »Pflege in Not« befindet sich in der Zossener Straße 65 in Kreuzberg, gegenüber der Marheineke-Markthalle, im begrünten Innenhof einer neueren Wohnhausanlage. Unter der Telefonnummer 69 59 89 89 sind täglich von 10 bis 12 Uhr (Mo–Fr, ansonsten 24stünd. Anrufsaufzeichnung) Rat und Hilfe erhältlich. Anrufen können die von Gewalt Betroffenen, aber auch in Konflikte verstrickte, pflegende Angehörige, Pflegepersonal,

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