Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
zu setzen. Es wurde auch gefragt, wie das jetzt mit den Händen ist. Und es hieß, Hände gelten als Gewebe. Ja, Haut, Knochen usw., das gilt alles als Gewebe und wird vom Gesetz nicht miterfaßt. Aber sie möchten es noch einfacher haben, die Transplantationsmedizin fordert, daß wir uns dem österreichischen Gesetz anpassen. Dort gilt, daß jeder, der sich nicht in einem Zentralregister als ›Organverweigerer‹ eintragen läßt, automatisch wie ein Organspender behandelt wird, ohne jedes Einspruchsrecht der Angehörigen. Das betrifft im Prinzip auch Touristen, die auf österreichischem Boden österreichischem Recht unterliegen. Da gab’s dann mehrere Skandale mit Skiunfällen. Um die Tourismusindustrie nicht zu beeinträchtigen, wurde das gelockert. Den Deutschen gegenüber jedenfalls.
Das österreichische Gesetz ist Anfang der 80er Jahre derart unspektakulär – auf Initiative von Prof. Margreiter übrigens – eingeführt worden, daß es den meisten Bürgern des Landes vollkommen unbekannt ist. Das will die Transplantationsmedizin auch hier verwirklicht sehen, statt sich von gutmeinenden Spendern abhängig zu machen. Die Leute denken ja, na gut, wenn ich sowieso tot bin und zu nichts mehr nütze, warum soll dann nicht ein anderer mein Herz haben, der es nötig hat?! Aber die Leute wissen nicht, daß sie gar nicht tot sein dürfen, weil sonst ja die Organe unbrauchbar sind, und daß sie also überhaupt nur als Spender in Frage kommen, wenn ein bestimmter Krankheitsverlauf eingetreten ist, bei dem man als ›hirntot‹ diagnostiziert werden kann. Also wenn z. B. durch einen Schlaganfall die Hirnschwellung so groß wird, daß man ins Koma fällt. Der Schlaganfall steigt im Moment. Also, Hauptspender ist nicht der vielbeschworene junge Motorradfahrer. Aber kein Mensch stellt sich einen Organspender vor, der im Rollstuhl sitzt. Das Alter steigt ständig, die Transplantationswerbung verkündet, daß man nun bis 82 spenden kann. Es werden natürlich auch Säuglinge und Kinder explantiert.
Viele machen sich auch nicht klar, daß das Sterben zu einem medizinischen Faktum wird, im Sinne eines organerhaltenden Prozesses. Und da kann natürlich kein Angehöriger dabeisein und die Hand halten. Wer als hirntot gilt, ist als soziales Wesen quasi ›erloschen‹. Es gibt ja diese Gruppe von geschädigten Eltern, die, ohne zu wissen oder zu ahnen, um was es sich eigentlich handelt, zugestimmt haben in die Organentnahme bei ihren Kindern. Erst hinterher begriffen sie, was geschehen war. Das sind in erster Linie Mütter, die in den Sarg geschaut haben und entsetzt waren. Und diese Eltern machen das auch öffentlich. Das finde ich sehr wichtig, daß andere sich das vorstellen können. Ganz konkret! Es wird ja in der Öffentlichkeit alles getan, um dem Ganzen ein positives Image zu geben.
Der Tabubruch, der stattgefunden hat, ist kaum noch sichtbar. Nur die Organempfänger fühlen ihn in aller Stärke. Die meisten empfinden eine Überlebensschuld. Sie sind natürlich auch nicht die glücklichen und gesunden Organempfänger, wie von der Werbung vorgegaukelt wird. Sie bleiben Patienten und müssen lebenslang bis zu dreißig Tabletten täglich nehmen, mit schweren Nebenwirkungen. Diese Medikamente bewirken eben eine geschwächte Immunabwehr, weil die notwendig ist, damit ihr Körper das fremde Organ nicht abstößt. Nur acht von hundert Herztransplantationspatienten z. B. überleben länger als ein Jahr. Sie bekommen Osteoporose, viele ein parkinsonartiges Zittern, sie können die Tasse nicht mehr halten, manche werden zum Pflegefall. Und neben den physischen Begleiterscheinungen gibt es eben auch eine ganze Reihe von psychischen Begleiterscheinungen. 50 bis 70 Prozent aller Organempfänger leiden an Persönlichkeitsveränderungen, Identitätskonflikten, Angst und Depressionen. Es gibt psychologische Betreuung und eine spezielle Organtransplantationspsychiatrie.
Ein Psychiater hat erzählt, daß bei allen das Thema Raub und Tötung im Vordergrund steht. Zum einen wird ihnen ja was Ähnliches angetan wie den Spendern. Bei einer Herz-Lungen-Transplantation wird ihnen sozusagen fast der gesamte Inhalt ihres Brustkorbs rausgenommen. Das ist eine furchtbare Vorstellung. Auch daß man sein Herz verliert. Das Herz ist ja das erste sich im Mutterleib bewegende Organ, und es hört normalerweise erst mit dem Tod auf, sich zu bewegen. Viele glauben auch, sie transformieren sich in den Spender. Herzempfänger sind ja meist Männer.
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