Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
Vom Netzwerk:
Freunde und Nachbarn.
    Frau Tammen-Parr empfängt uns im ebenerdig hinter großen Glasscheiben gelegenen Arbeitsraum. Die Aktenordner auslangjähriger Tätigkeit ziehen sich an den Wänden entlang, im Regal blinken die empfangsbereiten Telefone, auf dem großen ovalen Tisch liegt das Werbematerial für die demnächst statt-findende Benefizveranstaltung. Dazwischen plazieren wir die Kaffeetassen.
    Frau Tammen-Parr erzählt: »Wir sind eine unabhängige Beratungsstelle, leben sozusagen von Spenden, unser Träger ist das Diakonische Werk Berlin Stadtmitte e. V. Übrigens sind wir die einzige Beratungsstelle in ganz Berlin und Brandenburg, die sich mit Gewalt gegen Alte und in der Pflege befaßt. Wir haben eineinhalb feste Stellen und zwei sehr engagierte Ehrenamtliche, und das bei 80000 Pflegebedürftigen allein in Berlin. Das ist natürlich eine Katastrophe! Wir bekommen hier Anrufe aus allen Stadtteilen, aus allen sozialen Schichten. Allerdings, von türkischen Bürgern hatten wir bislang nur zwei Anrufe; wir bräuchten also auch dringend eine Türkin, die hier am Telefon sitzt. Ich mache das alles mit meiner Kollegin, der Psychologin Dorothee Unger, die praktisch von Anfang an mit dabei war und das Ganze mit aufgebaut hat. Ich habe eine volle Stelle, sie eine halbe. Aber mit 1,5 Stellen können wir eben leider nicht die ganze Hauptstadt bewältigen. München z. B hat immerhin sechs Kräfte; dafür gibts in den gesamten neuen Bundesländern nicht eine einzige! Dabei ist der Bedarf riesengroß. Aber die gesamte Problematik wird eben gerne so lange es geht ausgeblendet. Von allen! Grade bei Ehepaaren ist ja vieles ganz auf diese Ehe zugespitzt, das ganze Leben lang, viele schieben ihre Pläne auf, sagen: Später, wenn wir alt sind, dann widmen wir uns den Dingen in Ruhe, können lesen, können reisen – und plötzlich wird der Mann dann mit 55 oder 60 zum Pflegefall. Schlaganfall. Und dann passiert es, daß die Frauen 15 bis 20 Jahre lang pflegen und nichts mehr von all dem machen können, was sie sich mal vorgenommen hatten. Der Anteil der pflegenden Männer ist übrigens gering, aber er steigt, und er ist in den neuen Bundesländern wesentlich höher als in den alten. Aber die Regel ist eben die pflegende Frau. Ich habe mit solchen Frauen gearbeitet, und da war es dann vielfach so, daß sie zunehmend erzählt haben von Spannungen und Konflikten, bis hin zu Handgreiflichkeiten. Ich habe mich damals umgehört, außerhalb dieses relativ kleinen Kreises, und ich habe festgestellt, es ist absolut verallgemeinerbar; alle erzählen eigentlich haarsträubende Dinge – teilweise wird da unsanft angefaßt oder zu heiß gebadet, oder es wird auf den Ruf nicht mehr reagiert … Und so entstand eigentlich dann bei mir die Idee, diese Stelle zu gründen.
    Und ich dachte, am besten ein Krisentelefon, denn die, die beispielsweise einen Dementen pflegen, die kommen ja von zu Hause gar nicht mehr weg. Die müssen einfach dann, wenn der Angehörige schläft, mal zum Hörer greifen und sagen können, so und so sieht’s bei mir aus, ich kann bald nicht mehr für mich garantieren. Und so ein halbes Jahr später kam dann natürlich die Problematik der Alten- und Pflegeheime massiv dazu. Heute ist es folgendermaßen: Etwa die Hälfte der Anrufe kommt bei uns von pflegenden Angehörigen an. Die andere Hälfte aus den Heimen – aber eben nicht direkt von den Betroffenen, leider, denn die meisten alten Leute dort sind nicht in der Lage, selbst zum Hörer zu greifen. Es rufen aber die Angehörigen an, die mit der Unterbringung und Behandlung so nicht einverstanden sind, die informieren uns über Mängel und Mißstände. Oder es ist auch das Pflegepersonal, das anruft – die sind ja oft in einer Situation, die sie nicht mehr verantworten können. Die sagen dann z. B.: ›Also ich stehe jetzt hier alleine mit achtzig Heimbewohnern, verteilt über drei Stockwerke, meine Kollegin hat sich grade krank gemeldet. Wenn jetzt oben einer klingelt und ich setzt den auf den Topf, dann kann ich ihn frühestens nach einer Stunde wieder abholen.‹ Und nun bedenken Sie mal. Wir haben in Berlin etwa 80000 Pflegebedürftige, davon sind 20000 in Heimen untergebracht, und 60000 werden zu Hause versorgt, und davon wiederum erhalten 20000 Hilfe von den Sozialstationen. Rund 40000 werden ohne jede Hilfe von außen zu Hause gepflegt! Und die Pflege in der Familie ist damit natürlich auch am wenigsten öffentlich. Die Familien haben alle ihre

Weitere Kostenlose Bücher