Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
kleinen Geheimnisse, die sie in der Regel lieber hüten. Es gibt auch kaum Forschung zu dem Thema. Aber bei denen, die sich an uns wenden, da bricht es eben heraus, die sagen dann, daß es zunehmend Aggression, Ekel, Abwehr gibt; mancher sagt auch, ich halte das nicht mehr aus – am liebsten möcht ich die die Treppe runterstoßen!
Aber das Gute, sag ich mal, an unserer Arbeit ist, daß die körperliche Gewalt relativ gering ist in der häuslichen Pflege. Die meisten Konflikte sind alt. Sie kommen wieder hoch bei der Pflege, in diesem engen Abhängigkeitsverhältnis unter anderen Vorzeichen, all die Verletzungen und Kränkungen von früher. Die ungeliebte Ehefrau soll plötzlich nur noch geben, geben, geben! Töchter oder auch Söhne sagen, die Eltern waren nie diese wertschätzenden, fördernden, liebevollen Eltern, ihnen war nichts gut genug. Nun haben sie vielleicht den Vater zu sich in die Wohnung genommen, kümmern sich um ihn, aber abends, wenn sie von der Arbeit kommen, sagt der Vater nur: ›Na, kommst du auch mal vorbei!‹. Ein anderes Problem ist auch, wenn die Kinder anfangen müssen, Intimpflege zu machen, da gibt es oft starke Empfindlichkeiten auf beiden Seiten. Ein Sohn war in der Beratung bei uns und sagte, er wird die Mutter unterbringen müssen, wenn die Intimpflege beginnt. Das macht er nicht! Und wir gehen das Problem dann mit ihm durch, fragen, ob es ihm hilft, wenn die Sozialstation mitpflegt. Also die Leute fragen sich das oft gar nicht, was es an Erleichterungen geben könnte. Sie rutschen da einfach so rein und fühlen sich wie in der Falle, aus der es keinen Ausweg gibt.
Reinrutschen tun natürlich vorwiegend die Frauen – also, 80 bis 90 Prozent der Pflegenden sind ja Frauen –, es sind die pflegenden Ehefrauen, und es sind vor allem die Töchter und Schwiegertöchter, also Frauen im Durchschnitt so zwischen 40 und 70 Jahren. Und übrigens, da wir länger leben, sind wir Frauen es dann natürlich auch wieder, die die Gewalt empfangen, letztlich. Aber ich will’s mal so sagen: Im häuslichen Bereich gibt es meist kein klares Opfer-Täter-Verhältnis, es schaukelt sich hoch an alten und neuen Konflikten, Verletzungen, Kränkungen und auch Mißverständnissen – und es gibt natürlich auch die 85-Jährigen, die es schaffen, aus dem Bett heraus ihre pflegenden Töchter, Söhne, die ganze Familie zu terrorisieren, zu schikanieren. Eine sagte letztens: ›Wenn ich mal eine halbe Stunde zu spät komme, dann macht sie ins Bett, um mich zu bestrafen.‹ Oder einer erzählt: ›Seit fünf Jahren waren wir keinen einzigen Tag weg, nicht verreist und nichts. Dann wollten wir endlich mal verreisen, die Unterbringung und alles war bestens geregelt, dann sind wir nach zwei Tagen wieder zurückgeflogen, weil die Meldung kam, sie ist erkrankt.‹ Das ist oft eine Spirale aus Schuldgefühlen und Erpressungen, und in diesem Klima, in dieser Atmosphäre, gedeihen eben alle Formen von Gewalt.
Und Gewalt ist ja nicht nur die ganz konkrete, auf den Körper ausgeübte, es ist auch die verbale, emotionale. Das geht von ganz versteckten, kleinen Andeutungen bis hin zur Entwürdigung und seelischen Grausamkeit. Für den häuslichen Bereich wäre das beispielsweise: einschüchtern, isolieren, beschimpfen, verspotten, mit Liebesentzug drohen, mit Heimeinweisung; und körperlich wird eben schon mal hart angefaßt, aggressiv gewaschen, gekämmt, gefüttert, an den Ohren gezogen, bis hin zum Schlagen. Bei der stationären Pflege im Heim sind die Formen der Gewalt meist vielfältiger, der Konflikt ist kein persönlicher, sondern er hat mit der personellen Unterversorgung usw. zu tun; da kommt es dann zu gängigen Maßnahmen wie: Kasernenhofton, unerwünschtes Duzen, Unterwerfung unter einen fürs Heim praktischen Essens- und Schlafenszeitenrhytmus, zu fettes, zu abwechslungsarmes oder mangelhaftes Essen, mangelnde Schmerztherapie, zwangsweises Ruhigstellen durch Fixieren oder Medikamente, Flüssigkeitsmangel, Zwangswindelung, aber nur dreimal täglich Windelwechsel, lieblose, hastige Abfertigung, vergebliches Klingeln oder Entfernung der Klingel aus der Reichweite. Und auch hier kommt es schon mal zu Handgreiflichkeiten oder den noch schlimmeren Sachen, von denen man dann ab und zu mal in der Presse lesen kann. Das Heimgesetz hat zwar allerhand formuliert, um den Bewohner zu schützen; also, das Zimmer hat er ja gemietet, hat einen Mietvertrag unterschrieben, das ist sein ›Zuhause‹ – auch im
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