Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
dabeisein, häufig gibt er eine Narkose, denn es kann zu ›spontanen‹ Bewegungen des ›Toten‹ kommen. Vom Zucken beim Eröffnen des Körpers wird berichtet, von Hautrötungen, Schwitzen und einem Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck. Was einst noch ›Lebenszeichen‹ waren, hat jetzt nur noch den Status von Reflexen. Der Anästhesist hat die Aufgabe, sie zu unterbinden und das Herz so lange stabil zu halten, bis es entnommen wird. Würde der Totenschein jetzt erst ausgestellt, müßte als Todesursache Organentnahme angegeben werden. Damit keine Schuldgefühle entstehen, wird eine umfangreiche Arbeitsteilung praktiziert, sie erleichtert die Tabuüberschreitung und neutralisiert sozusagen die Schuld. Die fragmentierte Struktur des Transplantationssystems folgt mit der Zerlegung von Operationen dem Vorbild der kapitalistischen Ökonomie; je zerstückelter der Arbeitsprozeß, desto mehr Entfremdung und Entmenschlichung finden statt. In der Praxis ist das dann so: Ein ›Transplantationskoordinator‹ macht den Zeitplan, er organisiert, wohin die einzelnen Organe danach transportiert werden, und dann kommt ein Team, um die Leber herauszunehmen, ein anderes Team holt die Nieren, wieder ein anderes explantiert das Herz. Vor der Explantation der Organe wird eine kühlende Flüssigkeit eingeleitet, die die vitalen Organe sozusagen für den Transport in der Kühlbox ernährt. Hierbei kann es durch diese innere Kälte zu letzten Zuckungen kommen. Und nach dem Herztod kommt dann noch der Augenarzt, um die Augen zu holen. Und der Dermatologe, denn es gibt Fälle, wo die gesamte Haut abgezogen wird. Auch Knochenmark und Gewebe werden entnommen.
Ich habe eine Petition an den Deutschen Bundestag gerichtet, um Überprüfung gebeten, ob das alles als ethisch berechtigt gelten kann, und habe u. a. einen Film beigelegt, einen Lehrfilm für das Pflegepersonal der Uniklinik Benjamin Franklin in Berlin-Steglitz. Er zeigt, wie Hirntote sich bewegen, die Schultern hochziehen, den Arm heben, das Bein anziehen, und daß sogar der Penis noch erigieren kann. Ich bat um eine Überprüfung der Hirntoddiagnostik. Meine Eingabe war im Mai 2001. Bis Juli 2004 brauchte der Petitionsausschuß, um mir lapidar mitzuteilen, daß die Hirntoddefinition keine Frage mehr ist, sondern juristisch etabliert. Es steht im Gesetz, und daran ist nicht mehr zu rütteln.
Aber für viele Leute ist das keinerlei Beruhigung. In einem der Interviews, die Ulrike Baureithel und ich 1998 u. a. mit Ärzten und Pflegepersonal aus diesem Bereich gemacht haben, erzählt eine Operationstionsschwester folgendes: Sie war in einer Ausstellung über die Geschichte der Euthanasie im Nationalsozialismus und hat sich danach die Frage gestellt: Was ist eigentlich, wenn bei uns eines Tages der Hirntod keine Rechtsgültigkeit mehr hat, weil sich die Wissenschaft so fortentwickelt, daß sie den Hirntod als Irrtum bezeichnet? Bin ich dann eigentlich eine Täterin? Diese Frage erklärt also der Gesetzgeber als beantwortet. Grade die Schwestern und Pfleger können auf Grund ihrer Praxis nicht ausblenden, daß es sich hier um einen Sterbenden handelt, den man ausweidet, und nicht um einen Leichnam. In beinahe jeder Klinik wurde uns aber auch von Ärzten berichtet, die sich verweigern.
Und selbst der härteste Befürworter, Raimund Magreiter, ›Pionier‹ der österreichischen Transplantationsmedizin, der im Mai 2000 unter großem Medienspektakel zwei Hände verpflanzt hat, wird ausgerechnet bei Knochen schwach. 1998 sagte er uns: ›Wenn es darum geht, lange Röhrenknochen zu entnehmen, die dann nicht ersetzt werden, so daß ein Bein herunterfällt wie bei einem Hampelmann, das wäre etwas, das mich persönlich stören würde (…).‹ Von Knochen ist nie die Rede in der Öffentlichkeit, von Haut auch nicht. Diese Woche ist ja die erste Gesichtsverpflanzung gemeldet worden«. Die Katze schreit plötzlich so laut, daß wir zusammenschrecken. »Was ich damit nur sagen möchte, ist, daß die Verstümmelung jetzt zunehmend auch nach außen geht. Die Werbung für die Organspende suggeriert ja immer nur, es ginge um ein Organ, aber es wird ja eben um Multiorganspende gebeten. Was das bedeutet, bleibt verborgen.
Anfang dieses Jahres war im Deutschen Bundestag eine Anhörung, wo die Transplantationsmedizin sehr offensiv angetreten ist. Man sagte, man könne sich das nicht mehr leisten, ergebnisoffene Gespräche mit Angehörigen zu führen – das Gesetz verbietet ja, sie unter Druck
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