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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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Ein hoher Prozentsatz erhält Frauenherzen. In Deutschland ist die Organspende zwar anonymisiert, auf Wunsch wird aber das Geschlecht des Spenders genannt. Grade Herzpatienten gelten als sehr weinerlich, und die führen das dann auf ihr Herz zurück, das sie verweibliche. Also, sie fühlen sich gespalten und beraubt, haben aber andererseits Schuldgefühle, weil sie quasi auf den Tod eines anderen gewartet haben, davon profitiert haben. Da gab es z. B. das große Zugunglück bei Eschede, 1998, mit der Entgleisung des ICE. Viele der Schädelverletzten kamen nach Hannover, dort ist ein Transplantationszentrum. Also, wenn da Leute auf der Warteliste angerufen wurden, weil ein Organ für sie da war, dann haben viele das hinterher natürlich mit dem Zugunglück in Verbindung gebracht – das wurde ja als ganz ganz großer Trauerfall in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Manche schaffen das kaum, ihre Schuldgefühle halbwegs unter Kontrolle zu bekommen. Es gibt Beschreibungen, daß manche Organempfänger dann auch kannibalistische Phantasien entwickeln; z. B. träumen sie, daß sie als Raubtier das Herz eines anderen herausreißen und sich selbst einverleiben. Kannibalismus, das darf man nicht vergessen, ist ja auch eines der höchsten Tabus in jeder Kultur.
    Ausgerechnet der Hightech-Medizin ist es gelungen, anthropophage Vorstellungen in ihren Patienten zu erzeugen. Und das liegt einfach daran, daß hier die Therapie tatsächlich in der Einverleibung von Menschenfleisch besteht. Von daher entstehen sehr viele Konflikte. Dazu kommt dann noch ein spezielles Mißtrauen gegen das fremde Organ, besonders gegen das fremde Herz. Sie fühlen ›ihr Herz‹ nicht mehr klopfen, weil es diesen Nervenanschluß nicht mehr gibt. Also, es entstehen enorm viele Konflikte und Probleme, deshalb wird sehr darauf geachtet, schon bei der Indikationsstellung, daß Herzempfänger ein sogenanntes stabiles soziales Umfeld haben. Sie brauchen also eine Frau, die dieses ganze soziale Umfeld herstellt und auch für ein hygienisches Umfeld sorgt. Ohne das wird keine Herztransplantation gemacht. Doch bei aller Bereitschaft zur liebevollen Umsorgung bleibt sein Zustand doch zeitlebens der eines Patienten, der nicht mehr derselbe Mensch ist wie zuvor.«
    Miaaaooo !!! Die alte Katze schreit mehrmals und setzt sich dann vorsichtig. »Ich glaub, es tut ihr was weh«, sagt Frau Bergmann und holt sie sich wieder auf den Schoß. Streichelnd fährt sie fort: »Es gibt eine Studie aus Hamburg, von Kardiologen verfaßt, die ausdrücklich keine Kritiker der Organtransplantation sind. Sie haben unter dem Aspekt des Organmangels über Herztransplantationen herausgefunden, daß in Deutschland zwei Drittel aller Herztransplantierten eine gleich hohe, teilweise sogar höhere Überlebenschance gehabt hätten, wenn sie nicht transplantiert worden wären.«
    Draußen senkt sich die Abenddämmerung über die Dächer. Frau Bergmann zündet die Kerzen im Tischleuchter an, und für einen Moment läßt das Gefühl der Beklemmung ein wenig nach. Frau Bergmann, die mir bei der ersten Begegnung vor Stunden überaus klein erschien, scheint in der Zwischenzeit gewachsen zu sein. Wahrscheinlich liegt es an der ungeheuren Energie, mit der sie seit Jahren an diesem Thema arbeitet. Gern möchten wir nun noch ein bißchen was über sie selbst erfahren.
    »Ja, also – einmal hat mich schon sehr geprägt, daß meine Großmutter Hebamme war. Die Frauen, die bei ihr entbunden hatten, kamen immer mal, legten sich auf die Chaiselongue und haben zu meiner Großmutter gesagt: Guck doch mal, ob alles in Ordnung ist. Das war in den 50er Jahren. Meine Schwester ist übrigens auch Hebamme geworden, und mein Bruder ist in der Gerontopsychiatrie tätig. Und ich bin, was die Medizin betrifft, dann aber auch sehr geprägt worden durch meine Mutter. Die hatte, so lange ich denken kann, Todeskrankheiten. Ich habe immer diese Angst vor ihrem Tod gehabt, von früher Kindheit an. Mein Vater war ja auch Imker, und sie hatte eine Bienengiftallergie. Wenn sie gestochen wurde, schwoll alles an, die Luftröhre ging zu. Ich hatte eine sterbende Mutter vor mir. Das erste Mal war ich vielleicht vier Jahre alt. Ich hab sie dann sogar auch einmal gerettet. Und sie hatte Gehirntumore, was natürlich noch viel schlimmer war. Sie wurde operiert, mehrmals, und es hat sich immer wieder einer neu gebildet. Sie hatte die Vorstellung, daß es etwas Seelisches ist. Das saß ganz tief bei ihr, dieses Wissen darum, daß

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