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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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Zweibettzimmer –, das Personal muß klopfen usw. Aber die Realität sieht anders aus. Wie sagte ein Pfleger letzthin? ›Um 19 Uhr will ich hier keinen mehr auf dem Flur sehen!‹ Um 17 Uhr gibt es oft Abendbrot, und dann macht das Personal die Leute fertig zur Übergabe an den Nachtdienst. Aber können die nicht noch im Schlafanzug etwas über den Flur gehen oder im Tagesraum sitzen? Nein! Es muß ruhig sein! Es muß schnell gehen, reibungslos. Dadurch entsteht auch Gewalt. Und das ist bereits schon Gewalt, wenn man, wie unlängst jemand erzählte, um 18 Uhr die Rolläden alle runterläßt im Sommer, damit den Leuten suggeriert wird, es ist dunkel, es ist Nacht, es ist Schlafenszeit. Oder wenn man den Leuten, die zur Toilette geführt werden möchten, sagt: ›Wissen Sie was, machen Sie’s einfach wie die anderen auch, Sie haben eine Windel um, lassen Sie’s einfach laufen, den Rest erledigen wir.‹ Es gibt ganze Stationen, da sind alle gewindelt. Da kommt morgens eigens ein Lastwagen und holt das alles vom Vortag ab für die Müllverbrennung. Sie wollen einfach die Leute nicht dauernd zur Toilette führen. In guten Heimen, da kommen sie alle zwei Stunden mal vorbei und sagen: ›So, Frau Müller, wollen wir mal?‹ Und so werden die Leute automatisch dran erinnert.
    Denn man muß sich ja vergegenwärtigen: Zwei Drittel der Bewohner sind dement, die können sich nicht wehren, die können sich nicht richtig artikulieren, denen hört keiner zu, die sind dem hilflos ausgeliefert. Das Pflegeheim, das ist das Ende, die Finalpflege. Die durchschnittliche Verweildauer in den Häusern ist, glaube ich, zweieinhalb Jahre. Mancher ist vielleicht auch sechs bis acht Jahre da. Aber es heißt zu recht, man geht ins Heim und kommt da nie mehr raus, man geht hin zum Sterben. Und das ist für das Personal natürlich alles auch sehr belastend. Dazu kommt, der Beruf ist schlecht bezahlt und in der Öffentlichkeit schlecht bewertet. Wenn eine sagt, sie ist Altenpflegerin, dann hört sie gleich: Ach, du Arme! Und bei der andauernden Personalknappheit, die in den Häusern herrscht, wird allzu oft auch noch die ganze Last und Verantwortung den wenigen Kräften zugeschoben. Das zermürbt natürlich. Und es gibt eben auch ungeeignete, unempfindliche Kräfte, die gewohnheitsmäßig grob und unfreundlich sind. Das alles verschärft die Lage der Alten und erhöht ihr Risiko, Opfer von Gewalt zu werden. Es existieren aber, das muß man sagen, auch sehr gute Häuser, mit Stationen nur für Demente; die bilden kleine Bezugsgruppen mit kleine Teams von Pflegekräften, die nur für wenige Patienten zuständig sind. Da werden neue Konzepte entwickelt, und man versucht, frischen Wind reinzukriegen. Und seit einer Weile gibt es ja auch richtiggehende Demenz-Wohngemeinschaften. Die ersten Gründungen waren ja ganz klar auch eine Antwort auf die großen Einrichtungen und ihre völlige Überforderung. Ein Demenzkranker braucht eine sehr anspruchsvolle Pflege und Betreuung; die machen ja wilde, abstruse Sachen, reißen aus, gehen halbnackt durch die Gärten, rauchen und stecken die Zigaretten zwischen die Polster ins Sofa, randalieren oder lassen das Gas brennen usw. Da muß man immer wachsam sein. Und oft sind sie auch depressiv, brauchen Aufmunterung, Motivationstraining, Unterhaltung. Deshalb sind ja heute auch die Heime so voll mit Dementen, weil der mobile Pflegedienst der Sozialstationen, der kann natürlich nur zeitweise betreuen, der kann das einfach nicht leisten.
    Und bei uns hier laufen dann eben die Meldungen der Mißstände ein. Ein Beispiel will ich Ihnen erzählen: Angehörige haben uns berichtet, daß es in dem betreffenden Heim keine Zwischenmahlzeiten gab, also nur drei Mahlzeiten am Tag wurden ausgeteilt. Es ist aber für alte Leute, die nicht viel essen auf einen Schlag und vielleicht noch Diabetiker sind, ganz wichtig, daß man ihnen Zwischenmahlzeiten anbietet. Da gab’s dann auch Berichte, daß die Besucher im Haus um Essen von den Heimbewohnern oft richtig angebettelt wurden. Die Pflegerinnen haben teilweise den Menschen einfach Essen und Trinken hingestellt und nach einer Stunde wieder abgeholt, obwohl vielleicht gar nichts angerührt war, weil der Kranke, aus seiner Demenz heraus, gar nicht verstanden hat, daß er das Essen selber nehmen kann. Es kam auch vor, daß Seltersflaschen tagelang voll dastanden, ungeöffnet, ohne daß getrunken wurde daraus. Und das Personal hatte aber immer die Legitimation, daß eine

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