Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
jenseits von üblichen Krankheits- und Behandlungsverfahren. Aber dazu braucht es eben viele kleine Schritte, und die sind oft schwierig für die Betroffenen.
Aber was ihnen vielleicht lange unmöglich schien, z. B. ein Betreuerwechsel, ist in der Regel gar nicht so schwierig. Viele sind ja mit ihrem Betreuer unzufrieden. Manche möchten ihn loswerden, das ist schon schwieriger, ist aber auch möglich. Das Gericht muß entscheiden, denn der Betreuer wurde ja vom Gericht bestellt, nach dem Betreuungsgesetz. Das Gesetz gibt es seit 1992; damals wurde die sogenannte ›Entmündigung‹ abgeschafft bzw. reformiert, gelockert. Es gibt eben nicht mehr die volle Vormundschaft wie früher, sondern die Betreuer haben nur in bestimmten Bereichen was zu sagen: Gesundheit, Wohnung, Verwaltung der Finanzen, Aufenthaltsbestimmung, manchmal ist’s auch nur ein Bereich, z. B. Finanzen. Im Prinzip soll der Betreuer Unterstützung geben, und zwar in ›Übereinstimmung und mit Willensberücksichtigung‹ des Betroffenen, was aber im Grunde genommen nur sehr selten stattfindet. Oft funktioniert gar nichts richtig, und das Verhältnis ist aufgeladen. Der Betroffene kann beim Amtsgericht einen Antrag auf Aufhebung des Betreuungsverhältnisses stellen, dann kommt es zu einer Anhörung durch den Richter, und wenn der Betroffene den Richter klar und deutlich überzeugt, davon, was er will und kann, dann dauert es vielleicht noch zwei Monate, und er ist den Betreuer los. Ist der Richter nicht überzeugt, kann man immer noch einen Betreuerwechsel beantragen; wir kennen da einige fitte Betreuer, die nicht autoritär sind und ganz gut mit den Leuten zusammenarbeiten, ihre Wünsche und Rechte akzeptieren – also, das ist für viele schon eine enorme Erleichterung.« Es klopft, eine Mitarbeiterin kommt herein und fragt, ob sie sich schnell was am Computer ausdrucken darf. Olivia sagt: »Ich brauche sowieso eine Pause, ich gehe schnell eine rauchen …«
Die Mitarbeiterin hat Probleme mit dem Computer, gibt das Vorhaben auf und geht unverrichteter Dinge. Durch die offene Tür kommt kurz darauf eine Bewohnerin, sie ist barfuß und gut gelaunt, sucht die Mitarbeiterin und hat zwei Kannen Kaffee bei sich. »Habt ihr überhaupt noch Kaffee?!« fragt sie, und als wir in unsere leeren Tassen blicken, schenkt sie energisch ein. Olivia kommt zurück. Die Bewohnerin füllt auch Olivias Tasse und sagt: »Sie hat ein bißchen Angst vor euch, hat sie oben gesagt, ihr seid ein bißchen rigoros mit euren Fragen!« Olivia protestiert: »Ich habe das so nicht gesagt, ich habe gesagt: ›anstrengend.‹« Die Bewohnerin lächelt fein, empfiehlt, das Fenster zu öffnen, die Luft sei verbraucht, und geht. »Ja, ein wenig anstrengend ist es schon – wo waren wir gewesen? Ach ja, also, das war das Thema Betreuer.
Viele haben den starken Wunsch, die psychiatrischen Psychopharmaka abzusetzen, würden das aber alleine nie wagen. Und das ist eben unser ganz spezielles Angebot hier im ›Weglaufhaus‹, daß wir die Bewohner auf eigenen Wunsch hin beim Absetzen kompetent und zuverlässig unterstützen. Hier ist dann auch noch mal die spezielle Qualifikation der psychiatriebetroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von besonderem Wert, weil sie über jahrelange Erfahrungen verfügen. Allerdings ist unsere Kompetenz natürlich nicht anerkannt, wir dürfen aus juristischen Gründen nur beratend begleiten, es muß also geklärt werden, daß das Absetzen, Reduzieren und auch die Einnahme von Psychopharmaka in der Verantwortung des Betroffenen liegen und unter ärztlicher Beratung erfolgen. Damit steht dann einer Bearbeitung des Problems nichts mehr im Wege. Und da engagieren wir uns auch noch mal besonders, denn der zentrale Punkt unserer antipsychiatrischen Grundposition ist ja unsere Kritik an der Verabreichung von Neuroleptika und anderen Psychopharmaka, von Elektroschocks und anderen Zwangsmaßnahmen, die oft gegen den erklärten Willen der Betroffenen durchgeführt werden. Das ›Weglaufhaus‹ ist das einzige Projekt in Deutschland, das mit diesem Konzept, das wir haben, eine derart umfassende Aufklärung und Beratung über die Wirkungsweise dieser Psychopharmaka leistet und die entsprechenden Hilfen beim Absetzen bietet. Und wir wissen, daß es hier kein Patentrezept gibt, oft ist es sehr schwierig, oft langwierig. Psychopharmaka wirken eben auch ganz individuell, man kann keine allgemeingültigen Aussagen treffen. Manche haben schon Erfahrung mit dem
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