Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Absetzen gemacht, manche nicht. Manche machen es vorsichtig, Schritt für Schritt, andere machen es aber auch abrupt, das ist allerdings oft mit Problemen verbunden. Und das erklären wir eben alles. Es wird ein Absetzprotokoll geführt, was derjenige schreibt, und es finden regelmäßige Gespräche statt.
Eine weitere sehr wichtige Aufgabe hier im ›Weglaufhaus‹ ist es, den Bewohnern behilflich zu sein und beizustehen, wenn sie in die Krise kommen, und ihnen auch zu ermöglichen, ihre Krisen mal ganz anders zu erleben, zu bewältigen, ihnen zu zeigen, daß es auch Möglichkeiten gibt, ohne Medikamente aus so einer Krise rauszukommen.« Wir fragen, was genau mit »Krise« gemeint ist. »Also für uns ist eine Krise der Ausdruck von verschiedenen ungünstigen psychosozialen Bedingungen, die sich zugespitzt haben. Wir sprechen von psychosozialen Krisen, da steckt alles drin: das psychische Durcheinander und die soziale Situation. Wir arbeiten nicht mit Krankheitsbegriffen und Diagnosen. Neben der Stigmatisierung kann so auch vermieden werden, daß sich der Betroffene ausruht auf der Diagnose und auf dem festgeschriebenen Krankheitsbild. Die Bewohner sind für uns keine Kranken, sie bleiben für ihre Handlungen und Äußerungen selber verantwortlich. Wir prognostizieren nicht Krankheitsverläufe, sondern stehen bei der Lösung der Probleme bei. Das ist eigentlich das Prinzip. Wenn hier jemand sehr durcheinander ist, dann nennen wir das nicht ›psychotisch‹, wir sagen allenfalls ›verrückt‹, weil das der Zustand ist, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Realitäten wirken verrückt, die Wahrnehmung ist verrückt. Das ist oft heftig. Also, manchmal liegen unsere Nerven schon blank. Aber wir haben hier im Vergleich mit der Psychiatrie eine sehr hohe Toleranzschwelle. In der Klapse hätten die Leute schon längst eine Spritze gekriegt, damit sie ruhig werden und pflegeleicht. Wir haben hier vierzehn bis sechzehn Mitarbeiter, dazu ›Springer‹ und auch noch Praktikanten; im Dienst sind jeweils immer zwei Mitarbeiter, es sind auch die ganze Nacht über zwei Mitarbeiter anwesend, falls einer der dreizehn Bewohner, die wir bei vollem Haus haben, nachts irgendwelche Probleme hat. Also, derjenige, der oben schläft, der ist dann der Hauptansprechpartner, und der zweite Mitarbeiter schläft hier unten in diesem Raum eigentlich meistens sehr ungestört. Es ist so, daß viele Bewohner schlecht schlafen und dann natürlich in der Nacht kommen und ein Gespräch wollen. Das machen wir dann schon, aber wir machen auch deutlich, wenn das dann leerläuft, daß wir an unsere Grenzen kommen. Und, wie gesagt, wir sind alle krisenerfahren, viele eben auch aus persönlicher Erfahrung, das macht uns keine Angst. Wir wissen, solche Krisen haben ihre Dynamik, da gibt’s dann eben die akute Phase, wo es schlimm werden kann, und man ganz doll durcheinander ist, aber das geht dann auch wieder vorbei – mit und ohne Psychopharmaka übrigens.«
Wir möchten nun zum biographischen Teil kommen. Olivia wirkt befangen, sie beginnt dann aber zögernd zu erzählen: »Im Grunde genommen hängt so eine Normalität am seidenen Faden, man weiß es nur nicht. Nach dem Studium bin ich das erste Mal damals in die Krise gerutscht, es war die Arbeitslosigkeit und auch all das andere. Ich kann’s ja sagen, ich bin ja unter Pseudonym, bei mir war’s wohl hauptsächlich die kaputte Beziehung und eine Abtreibung. Ich wollte das Kind eigentlich gern haben, es war bereits meine dritte Abtreibung, aber angesichts meiner Lage, arbeitslos und mit dem kaputten Typen 1 , da hat mich der Mut verlassen. Und danach kam ich in die Krise, ziemlich tief habe ich mich verstrickt, und bin dann halt in der Klapse gelandet, das erste Mal. Na, da gab’s dann Psychopharmaka. Und da erst fühlt man sich dann wie unter einer Käseglocke, total abgeschirmt und zugleich aber abgestumpft, tot. Man hat das Gefühl, man kann sich nicht mehr bewegen. Man sieht das auch in der Psychiatrie, wie seltsam sich die Leute bewegen, wie sie zittern, wie ihnen die Spucke aus dem Mund läuft. Es herrscht so eine totale Steifheit. Bei krassen Erstbehandlungen, da ist die Dosis, die verabreicht wird, meistens zu hoch, ›Volle-Kanne-Prinzip‹, erst mal wird ›runtergespritzt‹. Und da gibts dann diese Krämpfe, Blickkrämpfe, Schlundkrämpfe, die Augäpfel drehen sich nach oben, der Nacken krampft, man zieht totale Grimassen und kann nichts dagegen tun. Erst unlängst erzählte mir eine
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