Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Wirkungsweise, der daran gekoppelte Heilerfolg, als bewiesen erklärt. Wer die Behandlung ablehnt, dem wird entgegengehalten, ihm fehle die Krankheitseinsicht. Dieses renitente Verhalten kann zur Zwangsbehandlung führen.
Es gibt eine flächendeckende psychiatrische und sozialpsychiatrische Erfassung und Versorgung von Verrückten aller Art, aber nirgendwo gibt es ein Schlupfloch für diejenigen, die genau davor fliehen möchten oder geflohen sind. Ein solch winziges Schlupfloch bietet sich lediglich in Berlin, im »Weglaufhaus Villa Stöckle«. Es entstand nach dem Vorbild der Weglaufhäuser, die Anfang der 80er Jahre in allen größeren Städten der Niederlande entstanden. 1996 eröffnete eine Gruppe von Vertretern der »Neuen Antipsychiatrie« – Leute mit Psychiatrieerfahrungen am eigenen Leib – das bis heute einzige »Weglaufhaus« Deutschlands (es gibt mehrere Projekte, sie scheitern aber mangels öffentlicher Mittel). Und auch dieses Haus gäbe es nicht ohne das jahrelange, rebellische Anrennen der Gründerinnen und Gründer gegen parteipolitische und bürokratische Hindernisse, und auch nicht ohne die Millionenspende eines Vaters, der seinen Sohn durch Suizid in der Psychiatrie verloren hat. In diesem Haus ist Psychiatern der Zutritt verboten. Es bietet wohnungslosen Männern und Frauen (ab achtzehn und mit Psychiatrieerfahrung) einen sicheren Unterschlupf auf Zeit. Wer unter der Psychiatrie gelitten hat, kann hier seine Fesseln loswerden, Diagnosen und chemische Zwangsjacke abwerfen und sich für ein anderes, selbstverordnetes Heilmittel entscheiden: das schrittweise Wiedererlernen von Selbstverantwortung, Selbstbeherrschung und Selbstbestimmung. Wer eine solche Zuflucht sucht, kann unter der Telefonnummer 40 63 21 46 jederzeit einen der Mitarbeiter erreichen.
Wir fahren an einem Frühlingsmorgen in den Norden Berlins. Das »Weglaufhaus«, eine Altberliner Villa von 1912, steht hinter einem Jägerzaun in Frohnau. Man würde hier eher erwarten, daß ein alter Herr mit Stock und Lodenmantel aus dem Haus auf die Straße tritt, nicht aber ein zerzauster junger Mensch mit einem Buch in der Hand, der lesend auf und ab wandelt. Der »Schandfleck« liegt mitten in einem gutbürgerlichen Villenviertel mit stillen Straßen, alten Bäumen, gepflegten, umzäunten Grundstücken. S-Bahn und Bus sind gut erreichbar, in bequemer Entfernung liegen Felder, Wald und Brachland. Den Anwohnern scheint es an kaum etwas zu fehlen. Gegen die Nutzung des Hauses gingen sie anfangs vor Gericht, heute herrscht eine Art Waffenstillstand. Ein auffallend hoher Zaun trennt das »Weglaufhaus«-Grundstück von dem des Nachbarn.
Wir treten ein durch die offene Haustür, gleich daneben liegt eine wohnliche Küche mit schachbrettartigem alten Fliesenboden. Hier finden wir Olivia, die gerade Kaffee kocht, während eine Bewohnerin energisch die Einkäufe hereinträgt und verstaut. »Den Kaffee nehmen wir gleich mit, sonst ist er weg«, sagt Olivia und gibt uns lächelnd die Hand, »ich bring ihn schnell runter, dann machen wir vielleicht zuerst einen kleinen Hausrundgang.«
Die sehr eilige Besichtigung läßt nur kurze, scheue Blicke zu, in leger eingerichtete große Gemeinschaftsräume mit Terrasse und Ausblick hinaus zum Garten mit Teich und alten Bäumen. Wir sehen ein helles, mehr wie ein Arbeitszimmer wirkendes Dienstzimmer, in dem eine Bewohnerin sitzt und unseren Gruß mit abweisender Sprödheit erwidert. In den beiden oberen Stockwerken befinden sich die privaten Zimmer der Bewohner, meist Doppelzimmer. Eine Etage ist Frauen vorbehalten. Der gesamte Privatbereich ist für uns tabu, verständlicherweise. Wir steigen ins Souterrain hinunter. Dort liegen eine Menge Kleidungsstücke auf dem Boden herum, als seien sie von den Leinen gefallen. Neben Waschküche, Trockenraum, Wäschekammer, Heizungs- und Handwerkerraum gibt es auch noch ein Sportkabinett mit Sandsack zum Boxen sowie ein kleines Fernsehzimmer. Hier stören wir einen jungen Mann auf, der sich offenbar im halbdunklen stillen Raum zum Schlafen auf der Liege zurückgezogen hat. Er nimmt sofort eine sitzende Haltung ein, birgt sein Gesicht in den Händen und wirkt durch die Störung äußerst gepeinigt. Wir bitten um Entschuldigung, und Olivia schließt schnell die Tür. Nebenan in einem kleinen Büro und Bereitschaftszimmer nehmen wir erleichtert Platz. Olivia schenkt Kaffee ein, wirkt nervös und beginnt zu erzählen:
»Also ein Teil der Mitarbeiter sind
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