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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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Psychiatriebetroffene; nach der Quotenregelung müssen es mindestens 50 Prozent sein, angestrebt wird, daß es mehr sind. Aber der Öffentlichkeit gegenüber sagen wir das nicht, wer von den Mitarbeitern Betroffener ist und wer nicht. Es gab die Erfahrung, daß dann sofort durch die ›Diagnosebrille« geguckt wird. Aus diesem Grund spreche ich hier auch unter dem Pseudonym Olivia. Ich möchte schon gern authentisch sein können, aber wenn das nun mit meinem Namen und meinem Bild in die Zeitung kommt, dann ist mir das zu persönlich, und ich wäre zu befangen.« Sie fährt sich mit einer zarten Geste durchs Haar. »Also das ist von uns ausdrücklich so gewollt, Psychiatrieerfahrung, wir betrachten das bei den Mitarbeitern als Ressource, als Qualifikation, als Erfahrungsschatz, der eingebracht werden kann. Die Öffentlichkeit sieht das leider anders, da wird man ausgegrenzt, abgestempelt – man trägt den Diagnosestempel immer auf der Stirn. Ja, und ansonsten gelten für alle Mitarbeiter die gleichen Voraussetzungen: Unvoreingenommenheit und antipsychiatrische Haltung, Arbeiten ohne Diagnose-, Therapie- und Zwangsinstrumentarium, Bereitschaft zu gleichberechtigtem, basisdemokratischem Arbeiten, gleicher Lohn für alle, unabhängig von der Ausbildung. Sowie Geduld und Diskretion.« Sie lächelt, fährt sich durchs Haar und wirkt immer noch ein wenig aufgeregt.
    »Und was die Nutzerinnen und Nutzer betrifft, so richtet sich unser Angebot hier besonders an Leute mit Psychiatrieerfahrung, die wohnungslos sind oder von Wohnungslosigkeit bedroht, weil Kündigung oder Zwangsräumung bevorsteht, und die sich insofern auf Grund ihrer Notlage schnell in einer akuten Krisensituation befinden, also Hilfe brauchen. Daß es nur obdachlose Psychiatriebetroffene sein dürfen, hat etwas mit der Bürokratie, mit der Finanzierung zu tun. Das ursprüngliche Konzept war mal, daß das quasi zur ›Gesundheitsfürsorge‹ gehört hätte, finanzierungsmäßig. Das wäre dann aber voll über die ›Psychiatrieschiene‹ gelaufen. Dann wurde das Projekt zum Glück bei ›Soziale Wohnhilfe‹ angesiedelt, für Menschen in schwierigen Lebenslagen, nach § 72 BSHG – seit 1.1.2005 ist das jetzt § 67 SGB –, und diese Regelung hat Vor- und Nachteile für uns. Der Vorteil ist, daß mit den ›schwierigen Lebenslagen‹ die Situation der Leute ganzheitlicher berücksichtigt werden kann und eben, entsprechend unserer Konzeption, nicht psychiatrisch-diagnostisch argumentiert werden muß. Der Nachteil ist, daß Leute, die zwar Psychiatriebetroffene, aber nicht wohnungslos sind, nicht hierherkönnen, weil da eben die Finanzierung durch die ›Soziale Wohnhilfe‹ nicht gegeben ist. Allerdings ist die Anzahl wohnungsloser Psychiatriebetroffener groß; viele wohnten bei Lebenspartnern und landen in der Krise auf der Straße, Leute leben in Wohngemeinschaften, in betreuten Einrichtungen. Oder sie haben eine Wohnung, sind aber so durcheinander, daß sie die Miete nicht mehr zahlen, auf Mahnungen nicht mehr reagieren, in der Wohnung vielleicht nachts ›rumrasten‹ oder sogar die Möbel zerhacken oder aus dem Fenster werfen oder völlig vermüllen, so daß die Nachbarn die Polizei rufen, und dann kommt eben schnell eine Kündigung. Und ebenso schnell landet man mit so einer Krise wieder in der Psychiatrie. Genau für so jemanden ist das ›Weglaufhaus‹ da.
    Das ist unsere Zielgruppe. Wir bieten Hilfe und Unterstützung in Form einer Krisenintervention, das heißt, wir helfen, die ganz konkreten Probleme zu lösen – was natürlich schon mal sehr entlastet. Also manche haben keine Sozialhilfe oder Rente, obwohl sie berechtigt sind, das leiern wir dann an, daß das läuft, oder jemand hat keine Krankenversicherung, das kommt immer häufiger vor, andere haben keinen Paß, keinerlei Papiere, oder sie haben Schulden, anhängige Strafsachen, verschiedene gesundheitliche Probleme, das alles muß geregelt werden, gemeinsam. Also, eigentlich sind es die ganzen grundlegenden bürgerlichen Rechte, die wiederaufgebaut werden. Und natürlich müssen wir uns als erstes um die Kostenübernahme kümmern. Die Ämter wollen immer ganz deutlich die Krise sehen, die Aufnahme muß sehr gut begründet sein, denn wir sind ja eine relativ teure Einrichtung, im Vergleich zu den üblichen Wohnungsloseneinrichtungen. Wir bekommen pro Tag und Person etwa 113 Euro. Aber wir sind dafür auch einzigartig in unserem Angebot, eine absolute Ausnahme. Hier ist eine

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