Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Schüler der Montessori-Schule in Potsdam bedeuten all die historischen Vorarbeiten: anschauliches, individuelles, freiheitliches Lernen statt Frontalunterricht und Paukerei; verbale Beurteilung bis Klasse acht statt Ziffernnoten; keinerlei Aussonderung nach Leistungskriterien (Fehlerfreudigkeit ist aus
drücklich erlaubt); gemeinsames Lernen in jahrgangsgemischten Klassen bis zur achten Klasse. Großer Wert wird gelegt auf freundliche Umgangsweisen und Respekt vor dem Anderssein (z. B. gegenüber den behinderten Mitschülern). Überhaupt wird auf eine grundsätzliche Vermittlung von Friedfertigkeit und Frieden sehr geachtet. Das war auch ein zentrales Thema Montessoris, und an diesem Punkt herrscht vollkommene Übereinstimmung mit Karl Liebknecht und seinen Anstrengungen für eine antimilitaristische Erziehung der Jugend. All das bewerkstelligt ein westöstliches Lehrerkollegium, das sich gemeinsam mit den Schülern und Eltern vor einigen Jahren an die Arbeit gemacht hat. Entstanden ist eine Schule, die nicht nur etwas lehrt, sondern auch unentwegt lernt, in der nicht nur auf die Selbstentwicklungskräfte der Kinder, sondern auch auf die der Lehrer vertraut wird. Sie müssen nicht nur taktvolle Pädagogen mit breitem Fachwissen sein, sie müssen auch, ohne die Konkurrenz anzustacheln und ohne Hilfe der üblichen Disziplinierungsmaßnahmen wie Notenvergabe, Lob, Tadel, Strafe, die Kinder zum selbständigen Lernen animieren. Sie müssen sich damit arrangieren, daß ihre Rolle nicht mehr die des übermächtigen Zentralgestirns innerhalb der Klasse ist, sondern die des zurückhaltenden, aber aufmerksamen Beobachters beim jeweils individuellen Lernprozeß. Es geht um die Herstellung eines Klimas der Inspiration, um Ruhe und Muße zum Lernen.
Die Montessori-Schule liegt südwestlich vom Schloßpark Sanssouci, nah am Wildpark in der Schlüterstraße, einer ruhigen Seitenstraße. Das Tierheim ist nicht weit, Siedlungshäuser und die Kolonien »Krähenbusch« und »Unverzagt« umgeben das auf den ersten Blick unauffällige DDR-Funktionsgebäude aus den 60er Jahren. Innen ist es aber, dank großer Fenster und eines offenen, lichten Treppenhauses, sympathisch. Der erste Blick fällt durch die Fensterfront des gegenüberliegenden Ausgangs in den liebevoll gestalteten großen Schulgarten. Es gibt alte Bäu- me, wild aussehende Balanciergerüste aus Holzstangen, es gibt Schaukeln und Klettersteine, kultivierte Ecken und Gebüsche, gepflasterte Areale und sandige Flächen. Im Zentrum steht ein hoher, teils bearbeiteter Brunnenstein, von dem im Sommer offenbar für vergnügte Kinder Wasser fließt. Nun ist noch Winter und alles verschneit, auch die Büste von Karl Liebknecht hat ein Schneehäubchen.
Die Schulleiterin, Frau Kegler, empfängt uns herzlich und schlägt einen kleinen Rundgang durch die Schule vor. Es ist neun Uhr morgens. Wir sehen einen Werkraum, in dem besonders ein im Bau befindliches großes Kanu auffällt; das bauchige Holzgerüst ist bereits fertig. Wir sehen eine überraschend kleine Kantine, in der jeden Mittag 310 Kinder essen. 3 Das Essen wird gebracht, kostet 2,40 Euro und besteht zu 70 Prozent aus ökologischer Erzeugung. Wir sehen die breiten Flure, in denen ab und zu Sitzecken eingerichtet sind, und es gibt große, kniehohe Podeste, auf denen lesende Kinder liegen. Überhaupt begegnen wir unentwegt Kindern, die sich allein oder gemeinsam beschäftigen, plaudern, auf dem Boden knieend große Papierbögen hingebungsvoll bemalen. Die Geräuschkulisse ist nicht laut oder kreischend, eher ein Kaffeehauston, gleichmäßig und angenehm unaggressiv. Alle Kinder und Jugendlichen tragen Hausschuhe oder nur Socken. Straßenschuhe und Schultaschen stehen vor den Klassenräumen auf dem Flur. Die Kinder wirken freundlich und unbefangen. »Dieser Anblick erschreckt viele unserer Besucher«, sagt Frau Kegler, »die Kinder auf dem Flur wie in der Pause! Sie haben jetzt Freiarbeit, und Freiarbeit ist bei uns Unterricht, sie ist bei uns das Kernstück. Sie sehen ja, die Kinder lernen aus freien Stücken und nach ihrem eigenen Interesse, und das durchaus konzentriert.« Ein Knabe legt am Rande des Flures eine lange Kette aus Holzperlen aus und kennzeichnet sie nach Abschnitten. Ich entschuldige mich für die Störung und bitte ihn, zu erklären, was er da macht. Er blickt ernst auf die Kette und sagt dann: »Das ist die Tausenderkette, die teile ich jetzt in Zehner auf, es fehlen aber noch ein paar, und am Ende
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