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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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30.  Focus habe ich höchstens fünf. Von den ganzen Tageszeitungen ist zwar BZ am meisten, aber auch viel weniger als früher. Tagesspiegel sind’s in der Woche nur noch zwanzig, am Sonntag dreißig. Einige Zeitungen habe ich nur für Stammkunden – taz habe ich zwei bis drei da, für Stammkunden. Es ist viel verlorengegangen, teils durch die Abos und weil man Zeitungen heute auch an der Tankstelle und im Supermarkt kaufen kann. Teils aber auch, weil die Leute weniger Geld zum Ausgeben haben – oder sie halten es mehr zusammen.«
    Ein junger Mann möchte Zigaretten und verabschiedet sich freundlich. »Den kenne ich noch von früher, wie er hier drüben in die Schule ging, als Kind. Morgens kamen sie schon an, die Kinder: ’ne Schlange, Brausepulver, Center-Shock. Da hab’ ich ja immer von sechs bis 22 Uhr offen gehabt. Seit zwei Jahren ist das Ganztagsschule, die Kinder kriegen dort alles zu essen. Sie kriegen auch Eis. Und der Markt hier auf dem Platz ist auch so gut wie tot, drei Stände sind’s grade mal noch an den Markttagen. Sie glauben gar nicht, was das hier früher für ein Leben und Treiben war! Und die Polizei oben am Augustaplatz … Zwar ist die immer noch dort, aber die verlängern keine Ausweise mehr. Da kamen immer massenhaft Leute an, besonders vor der Reisezeit.« Wir fragen, ob sie sich noch an die Abschiebehäftlinge erinnert, die in der Silvesternacht 1983 in den Polizeizellen am Augustaplatz verbrannt sind. »Ja, ich erinnere mich, daß so was passiert ist, aber nicht mehr an die Einzelheiten. Ich lebe ja dauernd mit den Schlagzeilen, viel davon vergißt man wieder.« Sie hat sich erhoben und füllt einen Stapel Illustrierte ins Regal, akkurat überlappend, so daß der Titel noch zu sehen ist. »Bei mir muß alles an seinem Platz sein. So und nicht anders! Da kann ich blind hingreifen.« R.: »Na, was möchtest du denn haben?« K.: »Eine Schlange und fünf Center-Schock, bitte.« R: »Und welche Geschmacksrichtung? Gemischt? Bitteschön.« Sie setzt sich wieder und schenkt Elisabeth und mir je drei dieser trendigen Kaugummis mit der sauren Füllung. »Das lieben die Kinder. Ich selber mag die Schlangen, da esse ich jeden Tag eine.« Telefon …
    Eine älterer Mann will eine Zeitung und Zigaretten, er erzählt, daß er grade ein bißchen Weihnachtsschmuck am Gartentor angebracht hat und daß das alles ja doch zu nichts nütze ist. Er ist mürrisch. Bis auf die Kinder wirken alle mehr oder weniger verstimmt. »Es gibt so viele einsame Menschen. Manchmal ist das hier ein richtiges Treffen, da erzählen sie mir dann alles, Sorgen, Krankheit, die kommen her, um ihr Herz auszusschütten. Ich find’ die Aussichten für die Zukunft auch nicht schön. Ach, jetzt gehn die Schmerzen wieder los … Auweh!« Wir fragen, was denn mit ihrem Bein ist. Sie setzt sich, bläst die Luft aus und sagt: »Na ja, das Bein hab’ ich mir 1971 verbrüht, im Kiosk drüben, zehn Tage vor der Geburt meiner Tochter. Ich wollte mir einen Kaffe machen mit dem Tauchsieder und bin mit meiner Unförmigkeit angekommen an das kochende Wasser. Alles lief über mein Bein. Ich hatte Nylonstrümpfe an. Hab’ geheult und weitergearbeitet. Wie abends mein Mann kam, sag’ ich, du, kannste mich mal schnell hinfahren zum Klinikum, ich hab’ mir das Bein verbrüht. Er hat nur gesagt: Ach, Weiber! Sag’ ich: Ist gut, ist erledigt! Na ja, und am nächsten Tag kam dann eine Krankenschwester, eine nette, die sagte: Um Gottes willen, warum haben Sie denn nichts unternommen?! Sie haben da eine Verbrennung dritten Grades. Sie hat den Strumpf und die dicken Blasen vorsichtig runtergerissen, das war alles rohes Fleisch nur noch. Mit der Zeit ist es dann verheilt.« R.: »Was darf’s sein?« »Einmal Pall Mall, die rote.« Sie erzählt weiter: »Wie das verheilt ist, da war nur noch so ’ne dünne Pergamenthaut darüber. Und 1978 bin ich dann im Kiosk an so eine scharfe Kante angekommen, und von da an ist das Bein offen. Mein Arzt hat gesagt: ›Frau Reinke, wenn wir das wieder zukriegen, geh’ ich mit Ihnen zum Tanzen.‹
    Es kann aber nicht zuheilen, weil keine Ruhe da ist. So ein Bein braucht Ruhe. Und ich hatte doch die vielen Schulden, ich konnte ja nicht einfach alle viere von mir strecken. Nee, Tabletten nehme ich nicht. Ich lebe mit den Schmerzen, schon 28 Jahre. Wenn’s zu doll wird, mache ich Chinasalbe drauf. Ich spreche nur auf Natur an. Heute ausnahmsweise ist die Ärztin hergekommen und hat mir eine Spritze

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