Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Untermenschen«, härteste Behandlung vor. Sie mußten täglich zwölf Stunden und mehr, oft ohne Ruhetag, schuften. Sie erhielten dafür Groschenbeträge und Hungerrationen an Essen. Etwas besser erging es den westlichen Zwangsarbeitern. Ende 1944 arbeiteten fast acht Millionen Zwangsarbeiter aus etwa zwanzig Ländern in Deutschland. (Dazu zählen noch mehr als eine halbe Million jüdischer KZ-Häftlinge, die vor allem zur unterirdischen Rüstungsproduktion gezwungen wurden. Und es fehlt auch die bis heute weitgehend unberücksichtigte Anzahl der in ihrer okkupierten Heimat zur Zwangsarbeit für die deutschen Besatzer Verpflichteten.) Von den fast acht Millionen waren 1,9 Millionen Kriegsgefangene. Von den übrigen circa sechs Millionen stammte die überwiegende Mehrheit aus der Sowjetunion und 1,7 Millionen aus Polen. Mehr als die Hälfte davon waren Frauen und Mädchen zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren. Nutznießer der Arbeit waren vor allem die Rüstungsindustrie, die Landwirtschaft sowie staatliche Betriebe und Gemeinden. Nach der Befreiung 1945 ging für viele »Ostarbeiter« der Alptraum weiter; sie wurden der Kollaboration mit dem Feind bezichtigt, einige wurden in die Stalinschen Lager nach Sibirien verbannt.
Ein halbes Jahrhundert lang waren diese gewaltige Ausplünderung fremder Arbeitskraft und die dabei gemachten Gewinne keinerlei Thema in unserem Land. Erst als Ende der 90er Jahre in den USA Sammelklagen gegen deutsche Firmen eingereicht wurden, haben VW und Siemens unter diesem Druck einen »Entschädigungsfonds« eingerichtet, wurde die Bundesstiftung »Entschädigung, Verantwortung, Zukunft« gegründet, die diesen Fonds verwaltet. Weitere Firmen folgten, viele zahlten widerstrebend ein, viele Firmen weigerten sich. Während sich die Zeit mit Streitereien hinzog, besonders um die Rechtssicherheit der Firmen, starben unbemerkt 50000 der anspruchsberechtigten Zwangsarbeiter. Am Ende mußten 5,1 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden, je zur Hälfte von Industrie und Bund (wobei die Industrie fast die halbe Summe von der Steuer absetzen konnte, so daß dieser Teil dann auch auf den Bund entfiel). Die tatsächliche Höhe der geraubten Löhne wird von unabhängiger Seite auf etwa 92 Milliarden Euro geschätzt. Von den nun 5,1 Milliarden Euro sind 4,1 Milliarden Euro für die Zwangsarbeiter zugestanden worden, im Regelfall ist das die einmalige Zahlung von insgesamt 2500 Euro pro Person. Zwangsarbeit unter »besonders schweren Bedingungen« (KZ u. ä.) wird mit maximal 7600 Euro »entschädigt«. Ausgezahlt wurde ab 2002 in zwei Raten. Viele erlebten die Auszahlung ihrer zweiten Rate nicht mehr. Die Bundesstiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« ist »zuversichtlich, die Auszahlungen bis zum Sommer 2005 im wesentlichen abschließen zu können«. Ein günstiger Ablaß. Rechtssicherheit gab es nicht für die ehemaligen Zangsarbeiter, sondern nur für die deutschen Firmen und die Bundesrepublik. Alle Reparationszahlungen sind sozusagen damit abgegolten, »etwaige weitergehende Ansprüche im Zusammenhang mit nationalsozialistischem Unrecht sind ausgeschlossen«.
Marina Schubarth hat damals vielen Antragstellern bei der Beschaffung des Arbeitsnachweises geholfen; viele konnten sich kaum die Kosten für Porto und Übersetzung ihrer Briefe nach Deutschland leisten, die Archive, Behörden und Versicherungen arbeiteten schleppend, waren trotz massiver Anfragen chronisch unterbesetzt. Viele Anträge wurden abgelehnt, viele Zwangsarbeiter gingen leer aus. »Solidarität mit den noch lebenden NS-Opfern darf sich nicht auf anonym gezahlte Kompensationsleistungen beschränken, zumal das bürokratische Auswahlverfahren zwischen Berechtigten und Nichtberechtigten viele betroffene Menschen beleidigt«, sagt Marina Schubarth.
Wir treffen sie an einem eisigen Februartag im Schöneberger Ladenbüro von Kontakte - Kohtakt ы e. V. und nehmen um ein hübsches Tischchen herum Platz. An der Wand hängen großformatige Fotos von ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und auch von leukämiekranken Kindern nach Tschernobyl. Marina schaut auf ihre schmalen Hände und erzählt:
»Auf das Thema Zwangsarbeiter kam ich eher zufällig, durch die Rolle in dem Schweizer Film Der stumme Berg , und dann 1999, zwei Jahre später, als ich die Absolventinnen der Filmhochschule Babelsberg begleitet habe, bei ihren Dreharbeiten in Tschernobyl. Die Regisseurin kannte eine Überlebende des KZ Ravensbrück. Sie wohnte in
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