Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
gegeben, damit wir in Ruhe reden können. Das ist ja richtig roh, blutig, eitrig und alles, und da ist noch ein Knochen, was rauskommt schon. Hier unten ist alles weggefault. Morgens um fünf stehe ich auf und brauche für mein Bein fast zwei Stunden damit es keine Sepsis gibt. Erst mal saubermachen. H2O2, dreiprozentig, drübergießen, zum Reinigen und Desinfizieren. Da gieße ich täglich eine Literflasche drauf, die kostet auch schon fünf Euro.« Zwei Mädchen möchten Snickers, Schlangen und Zwiebelringe. Die Gaslaterne draußen ist fauchend angegangen. Wir haben die Dämmerung gar nicht bemerkt.
»Ich hab’ vor, alles zu verkaufen. Auch das Haus. Ich brauche für mich nur Zimmer mit ›KONI‹ – mit Kochnische. Ich möchte auch wirklich mal nur an mich denken und mit dem Bein noch mal was versuchen, im Krankenhaus. Und wenn ich das schaffe, daß das besser wird, daß es zugeht, daß ich Treppen steigen kann und alles, dann gehe ich zur Musikschule und lerne noch singen. Ist mir wurscht. Ich möchte Opern singen!« Sie singt mit voller, schöner Stimme: »Ich trete ins Zimmer von Sehnsucht erfüllt …«
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PLÜNDERN, ZAHLEN, AUFATMEN
BALLERINA
»Beim tragischen und bedrückenden Thema der Zwangsarbeit darf es nach unserer Meinung nicht in erster Linie um das Aufrechnen von Stundenlöhnen gehen. Ansonsten besteht die Gefahr, die Tragweite des Geschehens zu verkennen.«
Rechtsabteilung Daimler-Benz
Marina (ukrain. Maritschka) Schubarth, Tänzerin, Choreographin, Regisseurin, arbeitslos. Kümmert sich i. eigener Initiative (u. m. Hilfe d. Vereins Kontakte) seit d. 90er Jahren um ehem. Zwangsarbeiter (»Ostarbeiter«) aus d. Ukraine u. Rußland. 1973 Einschulung i. d. Ukrainische Schule Kiew/UdSSR. 1976 Ausreise zu den Eltern n. Basel, 1978 Umzug n. Bonn, 1983 Schulabgang m. Mittlerer Reife. Aufenthalt i. Lausanne. 1984–86 Ausbild. z. Ballerina in Budapest, Fortsetzg. i. Köln, 1987 Diplom u. Hochschulabschluß i. Köln als Ballerina. Engagements als Tänzerin u. a. in Genf, am Staatstheater Karlsruhe (1987–89), am Theater d. Westens in Berlin (1989–94). Operation, Arbeitslosigkeit. Seit 1987 Initiatorin div. sozialer u. künstlerischer Projekte, u. a. Benefizveranstaltungen f. d. Kinder v. Tschernobyl. 1997 Hauptrolle i. Film »La Montagne muette«, erster Eindruck v. Thema Zwangsarbeit. 1999 Dolmetscherin u. Organisatorin f. e. Team d. Filmhochschule Babelsberg während einer Reise i. d. Ukraine (z. Film »Der Garten«, Thema Tschernobyl), erste Begegnung m. einer Überlebenden d. KZ Ravensbrück. 1999 Reise auf d. Krim, Begegnung m. d. Opferverband Jalta, Simferopol, u. vielen Zeitzeugen. Arbeitslosigkeit u. Aktivitäten f. d. Rechte d. »Ostarbeiter« (Recherchen z. Beschaffung v. Arbeitsnachweisen i. Archiven v. KZs, Behörden u. Betrieben). 2000 ehrenamtl. bei Kontakte (Verein f. Kontakte zu Ländern der ehem. Sowjetunion), m. Hilfe d. Vereins Ausstellung »Ost-Arbeiter« i. Roten Rathaus, Berlin, gleichzeitig Gründung d. Spendenaufrufs »Soforthilfe« f. ukrainische Zwangsarbeiter. 2001–2004 bezahlte SAM-Stelle (»Strukturanpassungsmaßnahme«) bei Kontakte, daneben u. a Choreographie a. Berliner Ensemble. 2002 Gründung d. Dokumentartheaters »Ost-Arbeiter«, zus. m. Natalia Bondar, 2003 Premiere des gleichnamigen Stücks im Bunker am Blochplatz, Berlin. Von 2000 bis heute 13 Reisen i. d. Ukraine, um Spendengelder d. »Soforthilfe« an die ehem. Zwangsarbeiter zu übergeben. Niederschrift d. 13 Reiseberichte (Eigendruck Kontakte e. V.). Auszeichnungen: u. a. des Opferverbandes Jalta, f. Völkerverständigung u. humanitäre Hilfe f. d. Opfer des NS. 2001 Carl-von-Ossietzky-Medaille. 2004 Urkunde ukrainischer u. russischer Zeitzeugen, Auszeichnung f. d. Stück »Ost-Arbeiter« u. d. Theatergruppe. Marina Schubarth wurde 1966 in Kiew/UdSSR geboren. Ihre Mutter war Germanistin i. Kiew, später i. Deutschland Arbeit als Germanistin u. Slawistin an d. Uni. Der Vater war Schweizer Bundesrichter. Sie ist nicht verheiratet u. hat eine Tochter.
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion und der Besetzung der Ukraine wurden bald umfangreiche Deportationen junger Menschen zur Zwangsarbeit nach Deutschland durchgeführt. Der Begriff »Ostarbeiter«, die Unterbringung, Ernährung, Entlohnung und Versicherung derselben, wurde 1942 gesetzlich festgelegt und sah, entsprechend ihrer Kennzeichnung als »rassisch minderwertige Fremdvölkische« oder »russisch-bolschewistische
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