Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
einem ganz kleinen Ort in der Ukraine, wir haben sie oft besucht. Eines Tages sagte sie: ›Maritschka, du lebst doch in Berlin, ich brauche, um die Entschädigung zu bekommen, einen Nachweis, daß ich in Ravensbrück war, man antwortet mir von dort nicht. Kannst du helfen?‹ Das war dann meine erste Recherche. Und es war ein brutales Erlebnis, als ich da am Computer saß in Ravensbrück, und diese Tausende von Frauennamen beginnen so zu flimmern. Ich dachte, um Gottes willen, hinter jedem Namen ist eine Seele, eine eigene Geschichte. Und plötzlich sticht der gesuchte Name heraus. Der ›Zivi‹ im Archiv war übrigens anfangs frech und wollte mir keinen Zugang gewähren. Ich blieb aber eisern, und so kam’s zu einem unbürokratischen Kompromiß: Ich darf nachschaun, und dafür übersetze ich ihm einen Brief aus der Ukraine, denn einen Übersetzer haben sie nicht mehr seit der Wende. Und es war genau dieser Brief, den die gesuchte Frau geschrieben hatte, mit Häftlingsnummer und allem. Er war ein halbes Jahr alt.
Und so ging es dann weiter, es sprach sich natürlich rum. Im Sommer wollte ich eigentlich auf der Krim Ferien machen. Ich wohnte bei einer befreundeten Familie; dort habe ich mal einen Scherz gemacht und sagte: ›Polina, bei dir sieht es so aufgeräumt aus, so was sieht man nur in Deutschland!‹ Sie hat gelacht und sagte: ›Ich war auch in Deutschland! Und übrigens möchte unser Opferverbandsvertreter von Jalta mit dir sprechen, man wartet auf dich.‹ Der Opferverband war in einer Art Baracke, das ganze desolat und auf einem Hügel. Mir ist fast das Herz stehengeblieben beim Anblick der alten Leute, wie sie mit ihren Stöcken mühsam heraufkamen. Sie setzten sich auf die teils kaputten Stühle, es wurde erzählt, und dann haben alle geweint, Männer und Frauen. Und plötzlich weinte auch der Opferverbandsvertreter los, der war in Anzug mit Krawatte, und wenn so ein Mensch weint, dann sind alle Grenzen erreicht, eigentlich.
Das war dann der Beginn einer Lawine. Der Satz ›Unsere Stimmen werden nicht gehört, uns kennt niemand, nicht in Deutschland, nicht hier‹ blieb mir im Gedächtnis, und er hat mich zu der Entscheidung gebracht, etwas zu tun. Damals gab es die große Debatte um die Stiftung ›Erinnerung, Verantwortung, Zukunft‹, und ich fand das traurig, wie kleinlich das alles war, wie zäh es sich hinzog wegen formaljuristischer Streitereien, wo doch die Zeit drängte. Denn wenn man es mit Opfern zu tun hat, die vielfach nicht nur alt, sondern auch krank und gebrechlich sind, dann ist es einfach sehr schäbig, sich jahrelang Zeit zu lassen! Ich dachte, da muß man gleich was machen. Was ich kann, das will ich tun. Neben meinem Arbeitslosengeld verdiente ich noch ein bißchen dazu durch Ballettunterricht, und dieses zusätzliche Geld habe ich dann investiert in Recherchen, Faxe, Porto, Telefon, um einerseits Nachweise zu beschaffen und andererseits irgendwie die Öffentlichkeit zu erreichen mit diesem Problem. Aber egal, wohin ich auch schrieb, ich bekam keine Reaktionen von den Redaktionen und Fernsehanstalten. Man konnte sich nicht mit der Angelegenheit befreunden, es war kein Thema, daß ehemalige Zwangsarbeiter keine Möglichkeit haben, an ihr Recht zu kommen, weil sie keine Möglichkeit haben, nach Deutschland zu schreiben und um ihre Unterlagen zu bitten, weil sie kein Deutsch sprechen, kein Geld für Porto und Dolmetscher haben, keine Adressen, nichts!
Was ein Ostarbeiter ist, war weitgehend unbekannt, dabei wurden die armseligen Zwangsarbeiterkolonnen morgens und abends mitten durch alle deutschen Städte getrieben damals, jeder hat sie gesehen. Der Verein Kontakte , auf den ich dann stieß, hat mir geholfen dabei, das Thema etwas bekannt zu machen, durch eine Ausstellung im Roten Rathaus. Es ist wichtig, daß die Leute sehen, das ist das Gesicht eines Menschen, er hat dies und das Schicksal, er hat diese und jene Probleme heute. Und es kamen dann tatsächlich die ersten Berichte in der Zeitung, und unsere Arbeit wurde allmählich bekannter; gleichzeitig gründeten wir den Spendenaufruf ›Soforthilfe‹ für ukrainische Zwangsarbeiter, alles im Jahr 2000. Und seitdem habe ich dreizehn Reisen gemacht in die Ukraine, um den Leuten das Geld selbst zu bringen, damit nichts versickert auf langen Umwegen. Es braucht immer Zeit, bis das Geld zusammenkommt; meistens zahlen bei uns eher Leute was ein, die nicht so viel haben, Studenten, Arbeitslose, Leute in kleinen Jobs; wir haben fast
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