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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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immer Beträge so zwischen 25 und 50 Mark bekommen.« Eine junge Frau betritt den Laden, sie will sich vorstellen und wird weitergeschickt, nach hinten ins Büro.
    Wir bitten Marina, etwas von den Reisen zu erzählen. »Also, jede Reise hat ein eigenes Konzept. Ich sehe zu, daß mich immer jemand von der Presse begleitet, und in den jeweiligen Orten treffen wir dann erst mal die Opferverbandsvertreter bzw. die Vertreterinnen; inzwischen sind es fast nur noch Frauen, mit denen ich zu tun habe, die Männer sind bereits gestorben. Alle Vertreter sind übrigens selbst NS-Opfer. Und wir bereden dann, wo herrscht große Not, wer ist krank und braucht dringend Medikamente usw. Und wir besuchen dann auch die Leute gemeinsam. Das ist besser. Auf Grund der hohen Kriminalität in diesem Lande möchten die alten Leute oft die Tür nicht aufmachen, und überhaupt erzählen sie leichter, wenn jemand dabei ist, den sie gut kennen. Manchmal sind wir ein Team von mehreren Frauen, je nachdem, wie viele Journalisten aus Berlin mich begleiten.« Wir fragen, ob das für die Gastgeber kein Problem ist, wenn da Deutsche in ihrer Wohnung sitzen. »Nur ein einziges Mal habe ich das erlebt. Da war die Frau sehr traumatisiert; sie lag kurz vor dem Sterben, und als man ihr sagte, es sind Deutsche gekommen, da schrie sie: ›Bitte, holt mich nicht ab, kommt nicht mit Stiefeln rein‹ – wir haben dann ihre Hand genommen und sie beruhigt.
    Sonst freuen sie sich. Wir kommen ja meist unangemeldet, sehr viele haben kein Telefon. Wir kommen aber auch deshalb unangemeldet, weil die Ukrainer ein sehr offenes Volk sind, sie lieben es, wenn Gäste kommen. Wir müssen unbedingt vermeiden, daß sie es wissen, sonst gehen sie vorher los, kaufen ein und kochen und backen; die würden ihre kleine Rente ausgeben und sogar noch was leihen, nur um die Gäste zu bewirten. Aber wir sagen, wir möchten gerne, daß sie uns Ihre Geschichte erzählen. Viele erzählen uns dann, sehr bewegt, von den Erinnerungen. Das Geld habe ich in einem Umschlag, den übergebe ich am Schluß, denen, die noch gehen können, gebe ich’s immer in Euro, das ist günstiger, wegen der schwankenden Wechselkurse. Ist jemand bettlägrig, dann gebe ich’s in ukrainischer Währung. Ich habe immer zwei Päckchen, eins in Euro, eins in Griwna, der ukrainischen Währung. Ich sage dann, da drin ist ein ›freundschaftlicher Gruß aus Deutschland‹, ich nenne es eine ›kleine Geste‹. Und sie können das annehmen von uns, die wir aus Deutschland kommen, denn sie betrachten das als eine faschistische Ära, sie trennen zwischen Deutschen und Faschisten, und die Rote Armee hat den Faschismus besiegt. Und ansonsten halten einige sich in der Erinnerung an einem Deutschen fest, der vielleicht damals gut zu ihnen war, ihnen heimlich einen Apfel zusteckte oder etwas Brot, was ja streng verboten war.
    Es ist sehr wichtig für die ehemaligen Zwangsarbeiter, daß man aus Deutschland diesen Weg gemacht hat zu ihnen, daß man sich die Zeit genommen hat, ihre Geschichte anzuhören. Und daß man ihnen glaubt, das ist ein besonders wichtiger Faktor! Ich kenne viele Frauen, die z. B. ihren Ehemännern bis zum Schluß, bis sie gestorben sind, nie etwas davon gesagt haben, daß sie nach Deutschland verschleppt wurden zur Zwangsarbeit. In einem Fall war das besonders tragisch: Die Frau hatte als 15jährige in einer deutschen Munitionsfabrik arbeiten müssen, und sie wußte, gegen wen die Munition abgefeuert werden soll. Sie hat später einen Mann geheiratet von der Roten Armee. Er hatte keinen Arm mehr, und sie hat sehr gelitten unter der Vorstellung, daß vielleicht ihr Geschoß es war, das ihm diesen Arm weggeschleudert hat. Also, wie konnte sie ihm das sagen?! Viele hatten auch traumatische sexuelle Erfahrungen. Das deutsche Wachpersonal benutzte die jungen Mädchen einfach nach Lust und Laune. Wenn man die Statistik z. B. für Neukölln anschaut, dann war, glaub’ ich, 1944 jedes fünfte Neugeborene das Kind einer Ostarbeiterin. Als diese Mütter zurückkehrten nach dem Krieg, da hieß es: ›Na ja, deutsches Kind!‹ Diese Kinder hatten es sehr, sehr schwer in der Schule, deshalb haben dann alle Betroffenen geschwiegen und hatten mehr als 50 Jahre lang keinen Opferstatus. Die Mütter konnten noch froh sein, daß man sie wegen Kollaboration mit dem Feind nicht ins Lager verbannt hat. Also, 99 Prozent aller Betroffenen, die ich kenne, hatten aufgrund ihrer Zwangsarbeit in Deutschland mit dem KGB zu tun

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