Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
gemeinsam mit den Jungen. Wir haben Tische gemacht, Stühle. In der Schweiz gab’s für die Mädchen nur Handarbeiten. In Bonn später war es dann auch nicht besser. Ich habe neben der Schule Ballett gemacht, das war es, was ich wirklich wollte. Als ich noch klein war, vier oder fünf, nahm meine Großmutter mich schon mit zu Balletten. Den Geruch von Spitzenschuhen habe ich heute noch in der Nase – sie wurden früher mit einem Kleber gemacht, der wahrscheinlich von Bäumen kam. Also, es gab einen Harzgeruch, verbunden mit Puder. Und dann Samt und Satin in rosaroter Farbe … Das waren die Kiewer Spitzenschuhe. Damals waren auch die Eintrittskarten für alle erschwinglich. Also, bei uns wußte jede Marktfrau, wann und wieviel die Ballerina sich drehen muß. Wenn was nicht stimmte, haben sie schon ›Buh‹ gerufen. Ich bin dann mit achtzehn nach Ungarn zur Ballettausbildung. Nach Französisch und Deutsch lernte ich so auch noch Ungarisch neben dem Tanzen; ich hatte Freundschaften, es war schön. Und dann passierte Tschernobyl! Ich war zwanzig, und in dieser Nacht hat es mich so geschüttelt, daß ich aufstand und einen Freund gebeten habe, mich nur schnell rauszubringen aus der Wohnung. Wir saßen an einem schönen Dom in Budapest in der Nacht, und ich habe geweint. Und dann sahen wir die Vögel, wie sie um zwei Uhr nachts total aufgeregt zwitscherten und herumflogen. Ich habe das alles in meinem Tagebuch aufgeschrieben. Was passiert war, erfuhr ich erst am nächsten Morgen. Es war schrecklich, nichts tun zu können. 1991 war ich dann mit der Ärztedelegation der IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War, Anm. G. G.) dort, sie haben Kinder untersucht und Erdproben genommen, und ich habe die Kontakte gemacht und gedolmetscht. Vor einer Klinik stürzten plötzlich Mütter mit Kindern auf dem Arm vor mir auf die Knie und flehten mich an, ihre Kinder mitzunehmen in den Westen, damit sie überleben.
Als ich zurückkam, haben wir ein Musical einstudiert, und ich merkte, ich pack es nicht, ich kann es nicht mehr trennen! Und so kam es dann zu dieser Benefizveranstaltung am Theater des Westens, das Geld bekamen die Tschernobyl-Kinder. Und als ich dann durch eine Operation nur noch unter Schmerzen tanzen konnte, dachte ich, ich will das Künstlerische und Soziale verbinden. Und das mache ich eigentlich heute. Ein Schlag ins Gesicht ist für mich, daß man diese Arbeit nicht unterstützt. Ich habe mich mit großer Zähigkeit in die Zwangsarbeiterproblematik hineingearbeitet, bin Expertin geworden, gebe meine Erfahrungen weiter, mache eigentlich praktische Versöhnungsarbeit; ich spreche fünf Sprachen, kläre die Jugend über mein Thema auf. Und trotzdem gibt es scheinbar keinen Bedarf für meine Arbeit. Ich habe jetzt noch Arbeitslosengeld ein Jahr lang, und das war’s dann …«
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ADEL, AAL UND WIDERSTAND
FISCHERSFRAU
Gisela Köthke, Fischersfrau a. D., Mitglied d. BI Umwelt- u. Naturschutz (12 Jahre Vorsitzende d. BUND -Kreisgruppe Lüchow-Dannenberg), Vorsitzende Turnverein Gorleben. Einschulung 1931 i. d. Dorfschule Retzin/Brandenburg, 1943 Abitur a. Lyzeum i. Perleberg. Bis 1945 Reichsarbeitsdienst, Flucht, nach der Enteignung des elterlichen Gutsbesitzes Arbeit i. d. Landwirtschaft, u. a. bei Salzwedel i. d. Altmark, 1946 geheiratet (einen Fischer). Gemeinsamer Aufbau eines Fischereibetriebes i. Gorleben. 1947 Geburt des Sohnes (der heute Fischereimeister ist u. diesen Betrieb leitet), seither Fischersfrau mit allen Problemen (Elbe als Grenze-Elbe, ihre zunehmende Verschmutzung usw.) u. mit allen Freuden gemeinsamen Aufbauens, von null an u. mit »eigener Hände Arbeit«. Seit vielen Jahrzehnten aktiv im Umwelt- und Naturschutz u. Teilnahme a. d. Widerstandsbewegung gegen WAA, Endlager u. d. Castor-Transporte. Sie widmet sich d. Dorfarbeit m. Kindern u. Jugendlichen, u. sie veranstaltet Gartenseminare (Volkshochschule). Für ihr Engagement i. Umwelt- u. Naturschutz bekam sie d. Konrad-Buchwald-Plakette vom BUND-Landesverband überreicht, u. 1994 erhielt sie den Umweltpreis d. Landes Niedersachsen. Gisela Köthke, geborene zu Putlitz, kam 1924 i. Stettin zur Welt. Ihr Vater (Sproß d. Familie Gans, edle Herren zu Putlitz) war Dipl.-Landwirt u. bewirtschaftete sein Gut i. Retzin bis 1945, die Mutter wurde nach der Enteignung Krankenschwester und machte mit 54 Jahren Staatsexamen. Frau Köthke ist verwitwet und hat einen Sohn.
An einem sommerlich warmen Nachmittag sind wir
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