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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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Holzschuhen und mit OST gekennzeichneter Kleidung in der Arbeitskolonne durch Weißenburg getrieben wurde, wie einige Leute spuckten und riefen ›Russenschweine‹. Und sie sagte: ›Das einzige, wo ich immer hingeguckt habe, das war auf den Boden, und da waren plötzlich wunderbar schöne Rosen, die geblüht haben in Rabatten, entlang dieser Straße.‹ Und die gibt es heute noch! Ich habe sie gefunden. Dann ging ich ins Archiv der Stadt, fragte nach alten Postkarten und Bildern aus den 40er Jahren und auch, ob sie Unterlagen über Zwangsarbeiter haben. ›Nein, leider nicht!‹ Man gab mir aber einen großen Ordner mit alten Aufnahmen, und als ich die durchgehe, fällt eine dicke Mappe aus dem Ordner raus, ich mach’ sie auf, und das war ein Schock: Es waren Namenslisten von den Zwangsarbeitern. Ich gehe sie mit dem Finger durch, und bei tausendfünhundertnochwas steht ihr Name plötzlich da. Der junge Archivar war sehr erstaunt und sagte: ›Nach dem Krieg wollte man vielleicht nicht, daß es jemand findet.‹ Ich bat ihn dann, mir eine Kopie zu machen mit einem Stempel, denn das war ja ein Nachweis. Schlußendlich habe ich alles kopiert, was mit Ostarbeitern zu tun hatte, und habe es an die Ukrainische Stiftung geschickt.
    Aber neben der materiellen Hilfe und der Beschaffung bürokratischer Dokumente ging es mir als Drittes auch immer schon um die Lebensberichte, von denen so viele wie möglich aufbewahrt werden müssen als Zeitdokumente, damit die Geschichte nicht anonym bleibt und nach der Auszahlung im Vergessen versinkt. Und das ist auch der Sinn des Theaterstücks. Ich habe ein Szenario geschrieben, zwei Biographien ausgewählt und zusammen mit meiner Freundin Natalja Bondar, mit der ich seit sehr vielen Jahren schon Theater spiele, das dann umgesetzt. Das war vor zweieinhalb Jahren. Seitdem spielen wir jeden Samstag abend das Stück; die Schauspielergruppe ist inzwischen von zehn auf 38 Personen angewachsen, Profis und Laien mit vierzehn Nationalitäten, darunter viele Jugendliche. Ich finde das phantastisch, alle spielen ohne Bezahlung, die Einnahmen gehen an die Zwangsarbeiter. Manchmal haben wir auch Besuch von Zwangsarbeitern, die sich das Stück anschauen. Dann nehmen wir immer eine sanftere Variante, d. h. wir lassen nicht, wie sonst, das Publikum vor dem SS-Mann erzittern. Also jeden Samstag um 20 Uhr im Bunker am Blochplatz, Bad-/Ecke Hochstraße, gegenüber vom Bahnhof Gesundbrunnen im Wedding, Einlaß ab 19.45 Uhr. Der Bunker wurde übrigens 1941 von Zwangsarbeitern zum Luftschutzbunker umgebaut. Also, mir bzw. uns ist das alles sehr wichtig, und es wird, wie immer, wieder mal von niemandem unterstützt. Es laufen Kämpfe um Geld, für eine Tournee in die Ukraine, ich hoffe und glaube, daß wir Geld von der deutschen Stiftung dafür bekommen. Und ich möchte hervorheben, diese Tournee haben die Zwangsarbeiter selbst initiiert, das waren nicht Politiker! Nicht Kulturministerien. Von da kommt absolut kein Signal. Wir haben den Kultursenator Berlins, Thomas Flierl von der Linkspartei schon mehrmals eingeladen, ich habe ihm sogar persönlich die Karte in die Hand gegeben. Es passiert nichts! Da herrscht vollkommenes Desinteresse …«
    Wir würden gerne noch etwas über ihre Kindheit und Jugend erfahren. »Ich will es mal kurz machen. Also, ich bin in Kiew geboren, meine Großmutter war Physikerin, mein Großvater ukrainischer Schriftsteller, meine Mutter war Germanistin. Ich bin eigentlich sehr typisch sowjetisch erzogen worden: Freundschaften pflegen, der älteren Generation helfen, Völkerverständigung usw. Das ganze Bild brach, als ich so acht Jahre alt war und meine Mutter einen Schweizer geheiratet hat. Meine Mutter mußte ausreisen, und ich durfte damals nicht mit. Erst mit neuneinhalb durfte ich ihr folgen in die Schweiz, denn, so hatte ich erfahren müssen, es war was ganz Schlechtes, was meine Mutter da getan hatte mit einem Kapitalisten. Das hatte ich in der Schule zu spüren bekommen. Und dann, in der Schweiz, da galt ich als Kommunistin. Die Eltern haben ihren Kindern gesagt, daß sie sich wegsetzen sollen. Diese Wunderwelt Schweiz hat mich überrascht; zuerst war ich geblendet, aber in der Schule war die Bildung weit hinter dem Stand zurück, den ich gewohnt war. Ich schrieb meinem Großvater: Bitte, schick mir die sowjetischen Lehrbücher, damit ich lernen kann. Und selbst bei den einfachsten Fächern war es schlimm. In der sowjetischen Schule hatten wir Werkunterricht,

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